Bevor
wir uns im nächsten Teil dann – endlich – den ersten richtigen
Argumenten widmen werden, muss ich heute noch zwei Dinge ansprechen,
die wichtig sind. Im ersten Teil wird es um die Quellen der
Erkenntnis gehen, woher wir das Wissen um das Aufhören oder das
Fortbestehen der Geistesgaben bekommen können, und wie wir mit
diesen Erkenntnissen richtig umgehen. Im zweiten Teil werde ich das
bisher Gesagte zusammenfassen und im selben Atemzug jeden Leser
auffordern, seine eigene Position zu überdenken und sich klar zu
werden, welche Argumente an ihn gehen und welche nicht. Aus
zahlreichen dieser Diskussionen zum Thema ist mir immer wieder
bewusst geworden, dass viele Menschen sich nicht so gerne festlegen.
Dann werden Argumente immer sehr schwammig gebraucht. Es gibt so eine
Art Argument-Hopping. Zu unserem Thema gibt es zahlreiche Argumente,
welche sich aber gegenseitig in manchen Punkten widersprechen oder
„beißen“. Deshalb sollte sich jeder, der in dieser Diskussion
teilnehmen möchte, auf eine ganz bestimmte Position festnageln
lassen. Erst dann wird es möglich, tatsächlich sinnvoll zu
diskutieren. Alles übrige ist Schattenboxen. Nur mal ein Beispiel am
Rande dazu: Es gibt die eine Sicht, welche besagt, dass die Prophetie
ganz aufgehört hat. Dann gibt es die andere Sichtweise, dass die
Prophetie nicht aufgehört hat, sondern transformiert wurde, und zwar
entweder in die Predigt oder in eine Art Vorsehung, die aber keine
Gabe ist. Hier muss sich jeder für eine Sichtweise entscheiden;
entweder es hat etwas ganz aufgehört und ist nicht mehr existent,
oder es wurde in etwas anderes verändert und existiert somit weiter.
Allerdings ist es in einer sinnvollen Diskussion nicht legitim,
zwischen diesen Sichtweisen hin- und herzuhüpfen, denn diese drei
Sichtweisen widersprechen sich gegenseitig.
Nun
genug der Vorrede; wir kommen zu den Quellen. Es gibt drei
verschiedene Quellen, die auf verschiedenen Stufen stehen. Höchste
Autorität hat für den Gläubigen die Bibel, weil sie ganz und gar
Gottes Wort ist. Sie ist viel mehr als nur Gottes Wort zu den Leuten
damals, die es aufgeschrieben haben; die Bibel ist Wort für Wort
Gottes Wort an jeden Einzelnen von uns, der sich unter Gottes
Autorität stellt, sprich: Für jeden einzelnen, der wahrhaftiger
gläubiger Christ ist. Nun gibt es zwei andere Quellen, die nicht so
autoritativ sind wie die Bibel, und das ist die Theologiegeschichte
und unsere heutige Erfahrung. Beide stehen deutlich unter der
Autorität der Bibel, wobei uns besonders auch die
Theologiegeschichte als Korrektiv für unsere heutigen Erfahrungen
dient. Leider gibt es immer wieder das Argument aus der
Erfahrungstheologie, welches besagt, dass etwas, was heutzutage nicht
mehr erlebt wird, deshalb nicht mehr existent oder nicht mehr von
Gott gewollt ist. Das ist natürlich völliger Unsinn, denn damit
wird unsere Erfahrung oder besser gesagt: Unser Mangel an Erfahrung
über die Schrift gestellt. Wie gehen wir nun aber mit der
Theologiegeschichte um?
Zunächst
ist wichtig, dass wir uns bewusst sind, dass die Theologiegeschichte
nicht unfehlbar ist. Dennoch ist sie sehr wichtig, denn viele der
Fragen, die sich uns heute stellen, wurden auch früher schon
gestellt. Menschen haben um Antworten gerungen und haben Dokumente
verfasst, in welchen sie sich für bestimmte Positionen und gegen
andere Positionen ausgesprochen haben. Das ist wertvoll. Dabei muss
man jederzeit im Hinterkopf behalten, dass manchmal dieselbe Sache in
verschiedenen Zeiten durchaus ganz unterschiedlich genannt werden
konnte. Sehr oft werden jedoch Argumente aus der heutigen Erfahrung
mit Bibelversen garniert, sodass ein Eindruck entsteht, es sei ein
Argument aus der Bibel. Beispiel: „Man sieht heute keine Heilungen
derselben Qualität wie zur Zeit Jesu, deshalb muss die Gabe der
Heilung verschwunden sein.“ Diese Behauptung muss auf ziemlich
vielen Ebenen geprüft werden: Wer ist „man“? Von welcher
Qualität (und wer legt das fest?) waren die Heilungen Jesu und von
welcher sind die heutigen? Wie lässt sich die Qualität einer
Heilung empirisch quantifizieren? Wie wird diese Gabe definiert? Und
so weiter. Es ergeben sich sehr viele offene Fragen, die dazu geklärt
werden müssen. Die grundlegendste Frage wurde damit aber noch gar
nicht angesprochen: Ist es überhaupt legitim, heutige Erfahrungen
als Grundlage zu nehmen, um damit die Bibel zu kritisieren? Darauf
werde ich in einem späteren Teil noch etwas ausführlicher eingehen.
Worum es mir bisher geht, ist lediglich, zu zeigen, dass es immer
sehr viele Fragen zu berücksichtigen gibt, und die Frage nach dem
Umgang mit Quellen zu den grundlegenden Fragen gehört.
Ebenso
muss man auch fragen, ob es einen Kanon im Kanon geben darf. Dazu
führe ich als Beispiel den Umgang mit der Unterscheidung zwischen
der Apostelgeschichte und den „Lehrbriefen“ des Neuen Testaments
an. Häufig hört man so etwas wie: „Aus der Apostelgeschichte darf
man keine Lehre ableiten, diese ist nur für die geschichtliche
Information da. Lehren, die für uns gelten, müssen aus den Briefen
des NT gezogen werden.“ Vertreter dieses Arguments versuchen aber
zumeist, das Beispiel von Timotheus und seiner Berufung unter
Handauflegung und Prophetie irgendwie so auszuhebeln, dass es auch
wieder nichts für unsere Lehre zu sagen haben darf, obwohl das
Wissen darum einzig aus den beiden Briefen an Timotheus
(Pastoralbriefe, „Lehrbriefe“) stammen. So entsteht ein Kanon im
Kanon, der vorgibt, was für die Lehre herangezogen werden darf und
was nicht. So wird im Voraus eine Auswahl getroffen, was die Bibel
uns heute zu sagen haben darf und was nicht. Das führt zur Eisegese
(Hineinlesen von Informationen in die Bibel, die nicht da stehen)
statt Exegese (Auslegung der Bibel).
Diese
Vorüberlegungen möchte ich mit dem Appell zur Selbstprüfung
abschließen: Jeder Leser möge sich selbst fragen, wo er („sie“
ist darin natürlich mit eingeschlossen) steht:
1)
Glaube ich, dass bestimmte Geistesgaben bereits aufgehört haben
sollen?
2)
Wenn ja, welche sind das? Alle? Oder nur einzelne, bestimmte?
3)
Wie definiere ich „Gnadengabe“? Lässt sich ihre Echtheit messen?
4)
Gehe ich von einem vollständigen Aufhören oder von einem zeitlichen
Ruhen oder einer Transformation dieser Gaben aus (zum Beispiel
Prophetie wurde zur Predigt)?
5)
Mache ich einen Unterschied zwischen „natürlichen“ und
„übernatürlichen“ Gaben?
6)
Glaube ich an heutiges übernatürliches Eingreifen Gottes,
übernatürliche Gebetserhörungen oder ähnliches? Wenn ja, nenne
ich das dann „Vorsehung“? Wie definiere ich „übernatürlich“?
Sind Engel zum Beispiel natürliche oder übernatürliche Wesen?
7)
Tendiere ich dazu, in der Bibel einen „Kanon im Kanon“ zu machen,
indem ich nur bestimmte Aussagen für uns heute gültig sein lasse?
8)
Woher stammt die Quelle meines Wissens? Wird sie a priori (rein aus
der Bibel abgeleitet) oder a posteriori (durch die Erfahrung anderer
oder die eigene Erfahrung) erhalten?
Dies
sind die wichtigsten Fragen, die sich jeder im Voraus stellen sollte.
Erst mit der ehrlichen Beantwortung dieser Fragen und auch mit der
Möglichkeit, auf diese Antworten „festgenagelt“ werden zu
können, ergibt sich eine fruchtbare Auseinandersetzung zum Thema.
Die Fragen haben viel mit Definitionen zu tun, was gerade deshalb so
wichtig ist, weil viele Missverständnisse auf schwammigen oder
oftmals auch nichtvorhandenen Definitionen beruhen. Da sich der Leser
nicht bei mir melden muss (aber natürlich darf), ist es notwendig,
dass ich noch einmal betone, dass die weitere Selbstprüfung viel
Disziplin notwendig macht. Jeder ist gefordert, sich selbst immer
wieder zu prüfen, ob man mit den Argumenten ehrlich umgeht, oder
nicht etwa doch versucht, zwischen den Definitionen zu hüpfen.
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