Am Ende eines jeden
Buches bleibt die Aufgabe, das Brauchbare herauszufischen und
Schlüsse zu ziehen aus dem, was man gelesen hat. Verschiedene Dinge
sind mir dabei wichtig geworden, weshalb ich sie etwas ausführen
möchte.
Was nehme ich mit?
Ich finde es ermutigend,
dass Menschen den Mut haben, bestimmte Dinge in Frage zu stellen.
Diese Fragen sind wichtig. Wir brauchen Fragen. Wir brauchen Zweifel.
Wir brauchen die Suche nach neuen Wegen des Ausdrucks, das Gespräch
mit der Gesellschaft. Wir brauchen eine neue Liebe zur Kunst, eine
Leidenschaft für das Schöne und das Künstlerische. Unbedingt! Ich
habe mit Spencer Burke geweint, als er sehen musste, dass die
Menschen in der Gemeinde die Welt der Künstler nicht verstehen
konnten und umgekehrt. Das hat mich mitgenommen – und ich teile
seine Gefühle hierin absolut.
Auch das, was im Buch
häufig als „Reduktionismus“ bezeichnet wird, nämlich ein
verkürztes Verständnis des Evangeliums, nach welchem man durch
Ja-Sagen und Nachsprechen von einer Art „Übergabegebet“ gerettet
wird, sehe ich ebenso kritisch wie die Autoren des Buches. Hieran
muss ganz dringend gearbeitet werden, dass unser Verständnis von
Evangelisation, Wiedergeburt und Bekehrung wieder vollständig wird.
Ebenso sehe ich die
Wichtigkeit der Gemeinschaft, des Zusammenlebens, gegenseitiger
Ehrlichkeit und Offenheit. Unser Leben kann und soll anziehend werden
– attraktiv für Menschen. Auch dieser Punkt hat mich sehr positiv
angesprochen. Allerdings ist ein solches Zusammenleben und Vorleben
auch in schon längst bestehenden Gemeinden möglich. Das ist kein
Alleinstellungsmerkmal emergenter Gemeindeformen.
Was muss ich am Buch
kritisieren?
1. Krisen- und
Opfermentalität
Im Mittelpunkt dieser
Geschichten steht immer eine „Krise“. Viele der Autoren sind
Menschen, die sich selbst als Opfer von („traditionellen“)
Gemeinden sehen und sich selbst auch ganz bewusst als solche
stilisieren. In unserer Zeit hat das Opfer immer recht – egal, ob
es die sich vom Patriarchat unterdrückt fühlenden Frauen sind, die
nach einer Quote schreien, oder vermeintliche Opfer des – oft sehr
diffus verstandenen - „Modernismus“ der Gemeinden. Wer eine Krise
durchmacht, ist ein Opfer, und Opfer verlangen, dass man ihnen recht
gibt. Wer ihnen zu widersprechen wagt, wird der Seite der
Unterdrücker zugerechnet. Es findet eine kolossale Emotionalisierung
jeder Debatte statt, weil sich das Opfer ja emotional angegriffen
fühlt. So wird jede sachliche Diskussion verunmöglicht. Das ist
heutzutage allgemein eine sehr beliebte Strategie, um recht zu
bekommen.
2. Viele Fragen –
keine Antworten
Die Geschichten sind voll
von Protest. Sie werfen viele Fragen auf, was an sich etwas Gutes
ist. Ich bin für vieles dankbar, was in den Geschichten als Fragen
auftaucht. Das Problem liegt woanders begraben: Die Fragen werden nur
aufgeworfen, ohne Antworten zu geben. Zuweilen scheint es so, als
wollte man ganz bewusst keine Antworten geben. Es wird gegen alles
protestiert, was man so als „status quo“ in traditionellen
Gemeinden zu entdecken glaubte. Alles, was bisher „normal“ war,
ist automatisch schlecht. Man bricht auf, nach irgendwo im Nirgendwo,
ziellos, frei von allen Antworten, frei von jedem Ziel. Diese
Freiheit wird gefeiert, auch wenn – oder gerade weil? - sie in
vielen Fällen zu zweifelhaften Irrwegen führt. So etwa zu
esoterischen Indianerritualen bei Spencer Burke und manches mehr. Man
will neue Wege finden, indem alle biblischen und historischen
Leitplanken in Frage gestellt werden – und landet so irgendwann am
Abgrund, wo das Zentrum der Geschichte und des christlichen Glaubens
verschwunden sind. Einige der Autoren tragen eine große
Verantwortung, weil sie Funktionen der Leitung innehatten oder noch
immer haben. Menschen sehen zu ihnen auf, nehmen sie als ihre
Vorbilder. Was sie die Menschen mit ihren Geschichten lehren, ist,
dass es auf die Fragen keine echten Antworten gibt. Jeder Mensch
müsse die Antworten selbst finden, aber es gibt ja noch nicht einmal
echte Hinweise darauf, wo man Antworten finden kann.
3. Vermeintliche
Gegensätze
Sehr beliebt ist das
Konstruieren von vermeintlichen Gegensätzen – so etwa, wie bereits
bemerkt, im Untertitel des Buches „Moving from Absolute to
Authentic“. Etwas Absolutes ist nicht per se ein Gegensatz zu etwas
Authentischem, also etwas Echtem. So wird immer wieder eine Art
Gegensatzpaar zwischen Dingen hergestellt, die eigentlich überhaupt
keine Gegensätze sind – und noch nicht einmal Widersprüche
enthalten.
4. Neue babylonische
Sprachverwirrung
Statt anerkennen zu
können, dass Gott die Sprache und Worte als Medium für Seine
Offenbarung ausgewählt hat, wird die Sprache von Grund auf
dekonstruiert und neu mit Inhalten gefüllt. Es wimmelt von
Begriffen, die der Bibel und der Theologie entnommen sind – wofür
sie jedoch gebraucht werden, ist ganz unterschiedlich. So sprechen
zahlreiche Autoren vom Heil, von der Gnade, vom Reich Gottes, vom
Evangelium, und so weiter. Doch keiner traut sich, diese Begriffe zu
definieren. So kann sie jeder selbst mit den Inhalten füllen, die
ihm behagen. Diese radikale Dekonstruktion von bekannten Begriffen
führt zu einer neuen Art der babylonischen Sprachverwirrung –
allerdings in einem weitaus alarmierenderen Grad: Wusste doch beim
Original jeder sofort, dass er seine Mitmenschen nicht mehr verstehen
kann, ist dieses Wissen nunmehr verschwunden. Da jeder die Begriffe
an sich kennt, sie jedoch unterschiedlich füllt, sind
Missverständnisse geradezu vorprogrammiert. Wer nur irgendwo die
Vorsilbe „Post-“ voranstellt, ist aus dem Schneider. Er kann dann
jedes Wort, das er damit versieht, ganz genau so interpretieren, wie
es ihm gerade in den Kram passt – und er ist immun gegen jeden
Widerspruch. Ich glaube, wir brauchen eine post-emergente Bewegung.