Nachdem ich das Buch
„Welt unter Sechs“ von Beile Ratut hier
vorgestellt hatte, kam ich mit der Autorin ins Gespräch. Es war ein
sehr gutes Gespräch. Damit nicht nur wir davon profitieren können,
wollen wir diese hier öffentlich weiterführen.
Jonas Erne
Wir haben erst über
den Sinn der Sprache nachgedacht. Sprache ist immer erst einmal
Information. Sie trägt natürlich in vielen Fällen auch Emotionen
weiter, aber wichtig ist die Information. Was passiert aber, wenn wir
anfangen, uns ungenau auszudrücken? Es gibt heutzutage eine Tendenz,
sich möglichst so auszudrücken, dass jeder in das Gesagte oder
Geschriebene das hineinlesen kann, was ihm behagt. Damit wird es
unwichtig, was der Autor im Kopf hatte. Einzig wichtig ist noch, dass
jeder das Gelesene mit bestimmten Emotionen verknüpfen kann. Damit
verliert die Sprache ihre Berechtigung – sie schafft sich ab. Sie
wird zu einem Instrument der Manipulation.
Sprache ist
friedensfördernd, solange wir sie ernst nehmen. Im Gespräch lassen
sich viele Gegensätze ausräumen, doch dazu bedarf es der
gemeinsamen Sprache, die sich darauf einigen kann, dass bestimmte
Worte eine bestimmte Bedeutung haben. Wenn sich 1+1 für einen
Gesprächspartner eher wie 3 statt wie 2 anfühlt, haben wir ein
Problem. Ohne eine klare Einigung, die für alle Teilnehmer
gleichermaßen gültig ist, bleibt am Ende nur das Schweigen – oder
der Krieg.
Gerade aus
christlicher Sicht bekommt die Sprache eine noch viel größere
Bedeutung – schließlich hat Gott alles durch die Sprache
geschaffen. Von der Sprache – und davon, dass sie adäquat
verständlich ist – hängen Segen und Fluch, Leben und Tod ab.
Dabei ist Fluch nicht einfach ein schlechtes Gefühl (das kann ein
Bestandteil davon sein, muss aber nicht), sondern Gottes
Gerichtshandeln, das der Mensch mit seinem Verhalten über sich
bringt.
Das bedeutet aber
auch, dass wir Gott beim Wort nehmen müssen, wenn wir den Segen
Gottes wünschen. Was bedeutet es aber, Gott beim Wort zu nehmen?
Manchmal höre ich Sätz wie „Das Liebesgebot ist mein Schlüssel
zum Verständnis der Bibel.“ Jetzt haben wir aber ein Problem: Was
ist genau Liebe? Wie definiert Gott Gottes- und Nächstenliebe? Es
ist natürlich richtig, dass das Doppelgebot der Liebe die Gesamtheit
aller Gebote Gottes wunderbar zusammenfasst. Absolut einverstanden.
Doch das allein sagt noch nichts über den Inhalt dessen, was Liebe
tatsächlich bedeutet. Es wäre vergleichbar mit einem
Mathematiklehrer, der seine Schüler mit den Ergebnissen einer
Kurvendiskussion konfrontiert und von ihnen erwartet, sie könnten
den Inhalt davon ohne Hilfestellung selbst erarbeiten.
Gott ist sicher kein
schlechter Mathematiklehrer. Deshalb gibt es die ganzen Reihen von
Geboten, die uns in ihrer Gesamtheit zeigen, was Liebe ist. Der
Schüler ist also nicht sich selbst überlassen, sondern er bekommt
eine umfassende, verständliche Erklärung, mit der er sich im Laufe
der Beschäftigung eine adäquate Definition der Liebe erarbeiten
kann.
Gott beim Wort nehmen
bedeutet somit, sich ohne Skepsis und ohne Vorurteile auf das
einzulassen, was die Bibel uns sagt. Es bedeutet, zu fragen: Was kann
ich daraus lernen? Es ist somit genau umgekehrt: Nicht das
Liebesgebot kann der Schlüssel sein, sondern das Liebesgebot braucht
die anderen Gebote, um verständlich zu werden. Sprache ist also sehr
wichtig. Die biblische Weisheit formuliert das so: „Tod und Leben
steht in der Gewalt der Zunge, und wer sie liebt, der wird ihre
Frucht essen.“ (Sprüche 18,21)
Beile Ratut
Eine Frage: Sie
sagen, von der Sprache hänge Segen und Fluch ab. Und Fluch sei das
Gerichtshandeln Gottes. Also hier in der Situation, dass wir Sprache
"falsch" verwenden. Wie wollen Sie das aber feststellen?
Ich bin nun wirklich kein Befürworter des modernen Denkens, dass
alles relativ sei und jeder aus seiner Sicht recht habe. Andererseits
ist natürlich daran auch etwas Wahres. Sie sehen die Welt ja
beispielsweise auch anders als ich. Und Gefühle ganz auszublenden,
das halte ich auch für falsch, denn wir sind ja keine Automaten, und
Gefühle sind sicher nicht immer verlässlich, sie können aber auch
Wegweiser sein. Wie in meinen Büchern, da sind Gefühle zum Beispiel
auch wie ein Warnschild. Das funktioniert allerdings nur, wenn man
selektiert, wenn man also im emotionalen Bereich so etwas wie ein
Unterscheidungsvermögen hat.
Jonas Erne
Gefühle blende ich
auch nicht aus. Gefühle sind für mich aber auch kein Warnschild,
sondern viel wichtiger. Sie sind ein Stimulus für mein Handeln,
einfacher gesagt: ich untersuche Gefühle nach richtig und falsch
(das ist eine theologisch-ethische Frage) und die richtigen Gefühle
helfen mir, etwas noch viel besser zu machen, indem ich die richtigen
Gefühle sozusagen in mir anfeuere. Zum Segen und Fluch, das sollte
ich wohl noch anders formulieren. Worum es mir geht, ist, dass Segen
und Fluch davon abhängt, ob man Gott beim Wort nimmt, Ihn versteht,
davon ausgeht, dass die Bibel wirklich adäquat verstanden werden
kann.
Beile Ratut
Ich habe bei dem
Warnschild aber auch an meine Romanfiguren gedacht, meine Heldinnen
erkennen auch anhand ihrer Ängste und Irritationen, dass etwas nicht
stimmt. In "Nachhall" wird die siebenjährige Heldin des
Romans von einem Nietzscheanhänger verführt. Er nutzt ihre
Situation für sich aus und verstrickt sie in Lügen und Täuschung.
Sie spürt innerlich, dass etwas nicht stimmt. Wirklich erkennen kann
sie dies aber erst, als sie als erwachsene Frau nach Erlösung sucht.
Jonas Erne
Ich denke, ich
verstehe, was Sie damit meinen.
Beile Ratut
Sie wollen auch auf
den Unterschied bei Gefühlen hinaus. Sie überprüfen sie nach ihrer
ethischen Wertigkeit. Gefühle brauchen also einen moralischen
Bezugsrahmen. Und den hat der moderne Mensch nicht mehr. In meinen
Geschichten will ich aber gerade jene Gefühle beschreiben, die, wenn
man sie ernst nimmt, die Lügen enttarnen und die Wahrheit ans Licht
bringen. Die Emotionen, die ich in meinen Büchern transportiere,
sollen eben nicht Wohlfühlen auslösen, sondern Element unserer
Wirklichkeit sein. Ich glaube, dass Gott eben auch in dieser Welt
gegenwärtig ist. Dadurch hat diese Welt ja auch ihren Wert und eine
Bedeutung. Unsere Gefühle können uns, wenn wir sie filtern, zu Gott
und zur Wahrheit führen.Menschen sind da aber natürlich sehr
unterschiedlich gestrickt. Und ich will Gefühle nun wirklich nicht
überbewerten oder ohne Bezugsrahmen in den Wind stellen.
Jonas Erne
Das finde ich gut. Im
neuen Buch kam das sehr gemischt rüber, habe ich empfunden.
Vielleicht müsste man dazu auch die vorherigen Bücher kennen.
Beile Ratut
Es ist wahrscheinlich
so, dass man sich nicht in jedem Buch erklären kann. So ein Buch
steht ja irgendwann für sich da, und es ist dann eben auch davon
abhängig, wie die Menschen es auffassen. Und letzteres ist wohl sehr
abhängig von der aktuellen Weltanschauung der Menschen. Die heutige
Weltanschauung unterstützt vermutlich auch den Zerfall der Sprache,
so wie Sie dies eingangs auch beschrieben haben. Sprache und
Kommunikation setzen in einem gewissen Sinn eben voraus, dass es
Wahrheit gibt. Sonst ist ein Gespräch unsinnig. Wenn ohnehin jeder
aus seiner Sicht recht hat und es nichts Absolutes gibt, das über
dem Menschen steht, warum soll man dann noch miteinander reden?
Jonas Erne
Dem stimme ich zu. In
den Texten, die ich von Ihnen kenne, da gibt es Stellen, die ich
sprachlich nicht stimmig finde. Es gibt zum Beispiel Verben, die
inhaltlich nicht passen, etwa "matt raunte ihr Schein zu ihr
herein." und ähnliche. Da ist meiner Meinung nach der
Sprachgebrauch im Widerspruch zum Sprachverständnis, nach welchem
durch Sprache Wahrheit transportiert werden soll. Ich persönlich bin
der Meinung, dass in so einem Fall der Sprachgebrauch aufhört,
authentisch zu sein. Bzw. der Sprachgebrauch wäre einzig dann
authentisch, wenn dahinter das konstruktivistische Sprachverständnis
stünde, was ja in Ihrem Fall nicht so ist, wenn ich das richtig
verstanden habe.
Beile Ratut
Ich bin stark von der
klassischen Musik geprägt, diese Musik verstärkt die Innerlichkeit
eines Menschen. Wahrheit ist für mich nicht Information oder
Attribut einer Aussage. Es ist viel mehr. Daher ist für mich Poesie
auch möglich. Die Bibel ist in vielen Teilen auch sehr poetisch. Die
Sprache in meinen Romanen ist sehr dicht gewebt, poetisch, in
„Nachhall“ zum Beispiel Soll die Sprache die innere Wirklichkeit
abbilden. Kann es sein, dass Sie einen sehr männlichen Begriff von
Sprache haben?
Jonas Erne
Hmm, ich vermute, da
bin ich überfragt. Den Unterschied zwischen männlicher und
weiblicher Sprache kenne ich ehrlich gesagt nicht. Dass ich ein Mann
bin, dürfte klar sein, aber dass es männliche und weibliche Sprache
gibt, ist mir neu. Ich hatte nach dem Lesen von „Welt unter Sechs“
gleich an den Konstruktivismus gedacht, deshalb auch mein Kritikpunkt
via Nietzschezitat. Damit habe ich vermutlich zu kurz gegriffen, bin
aber überzeugt, dass Licht nicht raunen kann.
Beile Ratut
Normalerweise gebe
ich Ihnen da auch recht. Und vermutlich gibt es keine an sich
männliche oder weibliche Sprache. Aber da Sie als Mann die Welt
anders sehen und erleben als eine Frau, wird sich das natürlich auch
auf die Art und Weise auswirken, wie Sie Sprache erleben und
benutzen. Ihren Kritikpunkt mit dem Nietzschezitat hatte ich nicht so
recht verstanden. Es klang für mich so, als wäre es Ihnen suspekt,
wenn man in einem Roman versucht, die Wirklichkeit der Personen
einzufangen. Was ja eine gewisse Subjektivität einschließt. Für
einen Techniker kann Licht nicht raunen. Aber für einen Poeten ist
das in Ordnung.
Jonas Erne
Es ist gut, wenn man
versucht, die Wirklichkeit einzufangen. Aber die Frage, die dabei
bleibt, ist doch, WIE das geschieht. Na gut, darin bleiben wir
vermutlich zweier Meinung. Das darf aber auch sein. Ich hatte das
Gefühl beim Lesen, die Sprache sei so komponiert, dass sie in mir
bestimmte Gefühle wecken (sprich: mich manipulieren) will. Da ich
ein ausgesprochen starkes Gefühlsleben habe, brauche ich diese
zusätzliche Stimulation nicht, sie hat mich deshalb eher gestört.
Das war mein eigentlicher Kritikpunkt dabei.
Beile Ratut
Das verstehe ich
besser. Dann müsste ich für Sie einen reinen Sachtext schreiben.
Nur Informationen. Was würden Sie nun unter einem angemessenen und
literarisch interessanten WIE verstehen?
Jonas Erne
Bildersprache ist
unbedingt wichtig für einen interessanten Schreibstil. Aber Bilder
können auch in inhaltlich korrekter Sprache transportiert werden.
Was Licht tun kann, ist sehr vielfältig. Aber Raunen gehört nicht
dazu.
Beile Ratut
Ich glaube schon,
wenn Sie in den Bereich psychischer Belastungen gehen, dann kann
Licht auch raunen. Ich vermute, es gibt da einfach ein Spektrum
dessen, was man wahrnehmen kann und was nicht. Der eine findet es
gekonnt, dem anderen erschließt es sich nicht. Menschen sind
unterschiedlich. Ein bisschen auch "Geschmackssache" und
eine Sache des Empfindens. Und wie gesagt, man muss sich dann die
Gesamtheit anschauen. Meine Hauptperson in „Nachhall“ ist ja aus
der Wirklichkeit herausgeworfen. Das kann sich auch in der Sprache
ausdrücken. Das muss es auch! Und ich schreibe nicht über die
Leute, die dazugehören, sondern über die kranken, verwundeten und
verlorenen Menschen. Bis auf die drei Männer, die Sie kennen, die
"gehören" ja irgendwie dazu, bis sie der Wahrheit auf den
Grund gehen.
Jonas Erne
Ein spannendes Thema.
Gerade der Pfarrer in der ersten Geschichte scheint da durch sein
„Schandmal“ eine solche psychische Belastung zu erleiden.
Beile Ratut
Wissen Sie, ich
glaube, wenn ein Mensch mal so richtig mit seiner Zerbrochenheit
konfrontiert wird, so wie der Pfarrer, dann ist das erst einmal eine
irre Sache. Normalerweise geht Gott da sicher behutsamer vor. Ich
kann mir aber eben auch vorstellen, dass er manche so "rannimmt."
Er ist ja auch ein Pfarrer. Und Gott will sicher, dass gerade ein
Pfarrer versteht, wer Gott ist.
Jonas Erne
Ja, und irgendwie bin
ich der Meinung, dass mindestens der Pfarrer eine Fortsetzung
braucht. Eigentlich bricht die Geschichte dort ab, wo sie beginnen
könnte. Nicht dass ich sie zu dunkel oder traurig finde oder
unbedingt ein Happy-End haben muss, aber da beginnt es doch dann,
spannend zu werden. Ich persönlich habe die Geschichte unter anderem
wegen des abrupten Endes als kirchenkritisch empfunden.
Beile Ratut
Bisher habe ich eher
darüber geschrieben, wie man in der Finsternis Erlösung finden
kann. Ich habe mich also nicht damit beschäftigt, wie es dann weiter
geht. Kirchenkritisch sollte das allerdings nicht sein.
Jonas Erne
Dann wäre das
vielleicht eine der nächsten Herausforderungen? Wie es dann
weitergehen kann, meine ich.
Beile Ratut
Wenn ich mir die Welt
um uns anschaue, dann finde ich es auch berechtigt, das Licht gerade
in der Finsternis zu suchen. Aber Sie haben Recht, ich will in meinen
nächsten Büchern auch mehr darüber schreiben, wie irdisches Glück
aussehen kann.
Jonas Erne
Darauf bin ich
gespannt. Vielen Dank für diesen ersten Teil des Gesprächs. Wir
werden auf jeden Fall weiter in der Diskussion bleiben.