Kellerkind.
Von einem, der sich einsperrte, die Welt zu retten. Eine
Kurzgeschichte
Vorwort
Liebe
Leser, ich bin Kellerkind. Auf meinem Personalausweis steht natürlich
ein anderer Name. Da steht „Markus Frei“. Aber so hat mich noch
kaum jemand genannt. Seit ich mich erinnern kann, nannten mich alle
Kellerkind. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist es so, dass mich
der Keller schon immer sehr interessiert hat. Da ist es dunkel,
modrig, geheimnisvoll. So ähnlich sah es in mir drin auch lange aus.
Doch dazu werde ich später noch mehr erzählen. Der andere Grund ist
der, dass mein Leben sehr gut zu diesem Wort passt. Zwar durfte ich
mir eine gute Bildung zuteil werden lassen; zumindest hoffe ich, dass
der Leser darin nicht enttäuscht wird. Aber ich habe zehn Jahre im
Keller verbracht und versucht, die Welt zu retten. Zehn Jahre am
Bildschirm, mit einer Couch neben meinem Schreibtisch, bis ich
gemerkt habe, dass nicht nur die Welt gerettet werden muss, sondern
ich selbst auch. Zehn Jahre auf acht Quadratmetern plus einer kleinen
Nasszelle mit Dusche und Klo unter der Erdoberfläche haben mich
gezeichnet und zermürbt. Zehn Jahre auf der Suche nach dem heiligen
Gral des Weltfriedens, doch am Ende habe ich Frieden mit mir selbst
gefunden. Davon möchte ich in den folgenden Zeilen erzählen. Denn
ich habe Hoffnung, dass der Leser, welcher diesen Frieden noch nicht
kennt, sich mit mir auf die Suche machen wird.
Schon
als Kind träumte ich davon, ein Held zu sein. Einer, der die Welt
rettet. Einer, der alle Flammen des Hasses und der Kriege
auszulöschen vermag. Als kleiner Junge verkroch ich mich oft im
Keller meiner Eltern in meine „Höhle“ aus alten Kissen und
Wolldecken und spielte mit meinen Plüschtieren „Frieden schaffen“.
Irgendwie dachte ich immer, dass man die Menschen (oder eben auch
Plüschtiere), wenn sie das Beste für sich nicht wollen, sie eben
dazu zwingen müsse. Und wie sehr fühlte ich mich als Held, wenn ich
allen meinen Tieren erklärt hatte, wie gut sie es unter meiner
Herrschaft als König hätten und sie mir überschwänglich dafür
dankten, sie zu ebenjenem Frieden gezwungen zu haben. So kam ich zu
der fixen Idee, dass es nötig sein könne, Zwang auszuüben, um die
Menschen dazu zu bringen, das für sie Beste zu wollen.
Und
dann lernte ich lesen und begann, alle möglichen Heldengeschichten
zu verschlingen. Ich lebte in diesen Träumen und war immer der Held
im Erdbeerfeld. Irgendwann merkte ich, dass es im realen Leben nicht
so leicht ist: Man beginne nur einmal mit der Frage, wo man ein Pferd
bekommt, was ein Held doch so häufig braucht. Ich bin ein Kellerkind
der Großstadt, und in meinem Umfeld gab es niemanden, der reiten
konnte, geschweige denn ein Pferd besaß. Die Betonwüsten meiner
Kindheit kannten eher zweirädrige PS-starke Gefährte, für die man
erst mal 18 werden musste, um sie reiten zu dürfen. Oder die Frage,
woher man weiß, wer gerade gerettet werden muss. Manchmal kam ich
meiner Mutter zur Hilfe, indem ich meinen Vater beleidigte, weil ich
ihn als meinen Rivalen betrachtete und dachte, sie müsste vor ihm
beschützt werden. Doch das machte ich nicht oft. Meist dachte ich
nur: Warte nur, wenn ich mal groß bin, werde ich ein Held. Dann mach
ich dich so richtig fertig, wie der Held in den Geschichten es mit
seinen Gegnern tut. Mein Vater, das muss ich hinzufügen, hat weder
mir noch meiner Mutter etwas Schlimmes angetan. Aber für mich war er
immer ein Rivale, der mir versuchte, die Aufmerksamkeit der Mutter zu
stehlen.
Vom
analogen zum digitalen Kellerkind
Und
dann bin ich durch den Computer in die digitale Welt gerutscht und
das hat irgendwie aus Kellerkind 1.0 plötzlich ein Kellerkind 2.0
gemacht. In meiner Freizeit nutzte ich dieses Medium immer stärker –
tagelang. Nächtelang. Wochenendenlang. Schulferienlang. In der
Schule war ich eigentlich immer ein unauffälliger, eher
einzelgängerischer, begabter aber fauler und somit durchschnittlich
benoteter Schüler. Die meisten Fächer fand ich durchaus
interessant, aber fesseln konnte mich nur die digitale Welt. Was für
ein endloser Horizont tat sich da auf! Wie viele Stunden konnte man
surfen und zocken und fand doch kein Ende. Das war meine Zukunft. Da
kannte ich mich aus. Das war der Bereich meines Heldenlebens, in dem
mir keiner so leicht das Wasser reichen konnte. Dachte ich auf jeden
Fall.
Tief
in meinem Inneren war ich auf der Suche nach meiner ganz persönlichen
Heldenstory. Ich wollte die Welt retten, ich wusste nur nicht, vor
wem und wie. Eigentlich bin ich ein sehr tiefer Mensch. Mit „tief“
meine ich, dass ich nicht so schnell zufrieden bin mit einer
einfachen Antwort oder einer oberflächlichen Befriedigung. Mit den
meisten Menschen kam ich schon deshalb nicht gut klar, weil sie zu
schnell zufrieden sind. Weil sie den schnellen Kick suchen und sich
dann fragen, warum diese Leere am Ende zurückbleibt. Ich wollte
anders werden, und fand doch zunächst lange keine Antwort. Eines
Tages wachte ich auf und merkte, dass ich genauso oberflächlich
geworden bin wie mein Umfeld. Das machte mir Angst, und ich griff zur
nächstbesten Lösung, zu der wohl die meisten oberflächlichen
Menschen greifen. Ich suchte Betäubung dieser inneren, unangenehmen
Leere.
Manche
suchen diese Leere mit Alkohol oder harten Drogen zu füllen. Das war
nichts für mich. Ein Held muss schließlich jederzeit abrufbar sein,
nicht erst, wenn sich der Kater verflogen hat. Nach kurzer Zeit fand
ich eine Alternative. Ich begann, das Internet zu füllen. Manchmal
hatten Menschen Fragen, und ich hatte Antworten. Ich konnte helfen
und wurde anderen zum persönlichen Helden. Manche ließen sich von
mir ihre Hausaufgaben für die Schule erledigen und gaben mir für
ein paar Minuten das Gefühl, der große Retter zu sein.
Doch
auf Dauer war auch das nicht befriedigend. Ich merkte, wie ich
ausgenutzt wurde, wie der letzte Depp. Die Arbeit durfte ich machen,
bekam ein paar Worte des Dankes, und damit hatte es sich dann. Das
konnte es auch nicht sein. Schließlich wollte ich ja ein Held für
die ganze Welt sein. Ich wollte etwas tun, was die Weltgeschichte zum
Guten ändern sollte. So etwas wie Graf von Stauffenberg, nur halt
dass ich es erfolgreich zu Ende bringen würde. Doch was konnte ich
tun, um den Weltfrieden auf die Erde herabzuholen? Ein Wort hat mir
gefallen. TOLERANZ. Und das hatte einen größeren Bruder namens
AKZEPTANZ. Wenn ich diese zwei Worte jedem aufzwingen konnte, dann
käme das dem Weltfrieden gleich.
Kellerkind
3.0
Inzwischen
hatte ich mein Abi in der Tasche, ein durchschnittliches Abi von
einem faulen Schüler, der in seiner Freizeit Besseres zu tun hatte
als zu lernen. Nun begann ich, mich ganz in den Kellerraum meiner
Eltern einzuschließen. Es gab für mich da unten schon lange ein Klo
und eine Dusche, Essen bekam ich auch regelmäßig, was wollte ich
noch mehr? Eine Couch und mein Schreibtisch mit dem schnellen PC,
mehr braucht ein Held heutzutage nicht mehr. Die Story läuft digital
in der grenzenlosen Welt des World Wide Web. Hier taten sich mir neue
Levels der virtuellen Realität auf, denn alles war jederzeit
zugänglich.
Immer
mehr wurde ich zu einem Sklaven der digitalen Welt. Leider merkt man
das nicht; erst viel später gingen mir die Augen auf. Ich sah den
Computer als Werkzeug, das mit den Zutritt zum Land hinter dem
Bildschirm eröffnen sollte und wurde zum Werkzeug der Technik, die
mir immer mehr begann, mein Denken, Fühlen und Wollen zu übernehmen.
Das einzige, was sie mir noch überließ, war das Tun. Die Bedienung
der Tastatur im Namen der Technik blieb mir überlassen. Jedes
Werkzeug wird zu einem Teil unseres Selbst und übernimmt einen Teil
unserer Identität. Je mehr wir unsere Identität einem Werkzeug
ausliefern, desto weniger bleibt am Ende von uns selbst noch übrig.
Wir werden zur Maschine.
Die
Frage, welche mich in dieser Zeit umtrieb, war diese: Wie kann die
Menschheit dazu gezwungen werden, sich mehr Toleranz und Akzeptanz
anzueignen? Was konnte ich tun, um den Weltfrieden voranzutreiben,
der zweifellos kommen musste, wenn nur diese zwei Worte genug betont
und gelebt wurden? Wenn ich das Internet betrachtete, sah ich immer
mehr Hass, Streit und Intoleranz. Doch eine Möglichkeit sah ich.
Kommentare konnte ich verfassen. Und den Melde-Button bedienen.
Schließlich war ich nicht der einzige, der ein Problem mit der
ganzen Intoleranz hatte. Immer mehr Seiten begannen, einen solchen
Button zu implementieren, mit dem man Beiträge melden konnte, wenn
sie mich störten. Und davon gab es viele. Sehr viele. Jeden Tag
mehr, und für jeden Beitrag, den ich meldete, fand ich drei weitere,
die ich noch nicht gemeldet hatte.
Der
Hass des Internets begann, auf mich abzufärben. Meine Kommentare
wurden immer sarkastischer, immer schriller, immer hasserfüllter.
Noch merkte ich nichts davon. Das geht nicht von einem Tag auf den
nächsten, dass man so hasserfüllt wird. Zumindest war es bei mir
nicht so. Es geht langsam, und irgendwann schaukelt man sich
gegenseitig hoch. Hass führt zu Gegenhass und Lautstärke zu
Gegenlautstärke. Irgendwann geht es nicht mehr um Argumente, nur
noch die Polemik zählt.
Irgendwann
kam noch ein schrecklicher Albtraum hinzu. Ich träumte, dass ich an
meinem PC saß; und während meine Finger flink über die Tasten
huschten, sah ich direkt vor meinen Augen, wie sich eine kleine,
schwarze Spinne an ihrem Faden abseilte und mir ins Gesicht kroch.
Ich wollte schreien und sie erschlagen, doch weder mein Mund noch
meine Finger gehorchten mir. Mit weit aufgerissenen Augen und vor
Schreck zu Berge stehenden Haaren musste ich zusehen, wie diese
Spinne sich nicht nur auf mein Gesicht niederließ und begann, in
meine Nase hochzukrabbeln. Nie zuvor hatte ich mir so sehr gewünscht,
niesen zu können, doch genau in diesem Moment klappte es nicht. Die
Spinne kroch mir so weit im Kopf hinauf, dass ich mir vorstellte, wie
sie es sich zwischen den Windungen meines Gehirns bequem machte.
Anatomie war nicht so meine Stärke. In dieser Nacht war ich froh,
dass ich aufwachte und konnte fürs Erste nicht mehr schlafen. Erst
Jahre später bekam ich eine Idee von der Bedeutung dieses Traums.
Im
Nachhinein ist mir aufgefallen, wie sehr ich in dieser Zeit den
Widerstand anderer Personen nötig hatte, die mir widersprachen. Mein
ganzes Dasein hing von diesem ab. Der Widerstand gab mir das Gefühl,
wichtig zu sein und auf der richtigen Seite zu stehen. Ich war nie
allein, es gab immer genügend andere Personen, die mich
unterstützten und immer wieder Mut zusprachen, meine Meinung zu
sagen oder besser gesagt zu schreiben und online zu veröffentlichen.
Aber es war immer der Widerspruch, der meine Identität ausmachte.
Nur wenn ich wogegen sein konnte, gab mir das ein Profil und die
Gewissheit, ein eigenständiger Mensch, ein Individuum, zu sein.
Nichts hasste ich mehr als den Gedanken, eine Kopie von zigtausend
anderer zu sein, die derselben Meinung waren wie ich.
Sag
mal, bist du das noch?
Ich
war nie wirklich mit Alkohol betrunken. Das wollte ich auch nie. Aber
einen anderen Rausch kenne ich nur zu gut: Den Rausch der Polemik,
die süße Trunkenheit eines harten und hasserfüllten Kommentars,
worauf die ungewisse, spannungsgeladene Verkaterung des Wartens
folgt: Wann kommt eine Antwort? Was wird als nächstes geschrieben?
Viele meiner Kommentare waren schon gelöscht, bevor sie diejenigen
lesen konnten, an den sie gerichtet waren.
Als
meine Mutter eines Tages die Dreistigkeit besaß, mich wegen des
Hochzeitstages der Eltern zum Essen abzuholen, da funkelte ich sie
wütend an, und sagte grob zu ihr: „Lass mich doch einfach in Ruhe,
ich hab zu tun!“ Was wollte sie denn von mir? Ich hatte den Keller
seit fast zehn Jahren nicht mehr verlassen, hatte nichts zum
Anziehen, außerdem wartete ich gerade mal wieder auf die Antwort auf
einen besonders boshaften Kommentar, in welchem ich der anderen
Person unterstellt hatte, zu den Neonazis zu gehören. Mir war damals
völlig klar, dass ich mich damit in einem Bereich befand, der nicht
ungefährlich war. Dieser Kommentar konnte als Rufmord ausgelegt
werden, und was das unter Umständen bedeuten konnte, wussten wir
alle. Trotzdem versuchten wir es immer wieder und bemerkten bald,
dass dieses Vergehen kaum geahndet wurde, wenn man nur auf der
richtigen Seite stand.
Doch
für Mutter schien das alles nicht so wichtig zu sein. Besser gesagt:
Sie wusste nicht, was ich in meinem Keller tat; und das war auch gut
so. Sie war nur sehr enttäuscht auf meine Reaktion; hatte sie mich
doch schon zwei Wochen früher zu diesem Essen eingeladen. Da war nur
das Problem, dass ich es dann gar nicht richtig wahrgenommen hatte;
mein Gemurmel verstand sie wohl als Zustimmung. In ihrer Enttäuschung
fragte sie mich – und diese Worte prägten sich tief in mein
Gedächtnis ein - „Sag mal, Markus, bist du das eigentlich noch
oder ist das diese Maschine, die aus dir redet?“
Im
ersten Moment lachte ich auf. Was wollte sie denn eigentlich?
Natürlich bin ich das. Ich bin immer noch derselbe. Kellerkind. Nur
halt ein paar Jährchen älter. 28, um genau zu sein, aber das war ja
nicht so wichtig. Kellerkind würde immer Kellerkind bleiben. Es war
ein raues, boshaftes Lachen, das aus meinem Mund kam. Es erschreckte
mich. Und dann war da auch die Erinnerung an die kleine schwarze
Spinne. Erst in der Nacht davor hatte er wieder von ihr geträumt.
Sie machte immer mit ihm, was sie wollte. Er war ihr völlig
ausgeliefert. In der Nacht vor diesem Ereignis träumte er davon,
dass sie ihm auf die Zunge krabbelte und ihn zwang, den Mund zu
öffnen, damit sie da hinauskrabbeln und sich am Faden abseilen
konnte. Ob das wohl etwas mit diesem Tag und dem Ereignis mit Muttern
zu tun haben konnte?
Doch
nein, das konnte nicht sein. Das war purer Aberglaube. Träume sind
Schäume, und wenn man sich von einem solchen schweißgebadet nachts
auf der Couch wiederfand, so war der Traum zu Ende und fertig. Träume
konnten keine Bedeutung haben. Zumindest meine nicht.
Sie durften keine Bedeutung haben. Denn ich wollte
mir nicht ausdenken, was dieser Traum mit meinem Leben zu tun haben
könnte. Allein die Vorstellung davon, dass es irgendeine Verbindung
geben könnte, trieb eiseskalte Schauer meinen Rücken hinunter.
Als
meine Mutter mit dieser Frage traurig die Türe hinter mir schloss,
stieß ich abermals ein Lachen aus. Diesmal klang es schon viel
annehmbarer. Oder wollte ich es bloß so hören? Mutter kannte mich
doch. Sie wusste, dass ich genug zu tun habe. Sie wusste auch, dass
mir nie langweilig war. Das World Wide Web ist wie New York: 24
Stunden am Tag geöffnet, immer etwas zu tun, immer in Bewegung.
Rast- und ruhelos. Genau so wie ich auch.
Nun
stürzte ich mich wieder in meine virtuelle Welt. Ich tat alles, um
vergessen zu können. Doch irgend etwas war anders. Der Wein der
Polemik hatte keine betäubende Wirkung mehr auf mich. Ich konnte
schreiben, schimpfen soviel ich wollte, das gewohnte Gefühl der
Trunkenheit blieb aus. Es war, als würde in meinem Hinterkopf ein
Browsertab laufen, das ich nicht schließen konnte. Und das mich
immer wieder fragte: Bist du das noch? Bist du das noch? Zum ersten
Mal in meinem Leben hätte ich gerne zur Flasche gegriffen, doch
selbst wenn ich eine gehabt hätte, wäre ich wohl davor
zurückgeschreckt. Denn das hätte bedeutet, zugeben zu müssen, dass
ich tatsächlich nicht mehr derselbe war.
Auf
der Suche
Die
nächsten Wochen waren von zwei gegensätzlichen inneren Stimmungen
bestimmt: Flucht vor mir selbst und Suche nach meiner Identität. Ich
musste wissen, wer ich war, und doch schreckte ich davor zurück. Es
machte mir Angst, an den Moment zu denken, da ich in den Spiegel
meines Inneren schauen und mir begegnen musste. Die Flucht trieb mich
dazu, immer neue Höhen des Hasses zu finden; aber wenn ich
zwischendurch bewusst durchlas, was ich da geschrieben hatte, war ich
mehr als einmal kurz davor, mich in eine geschlossene Anstalt
einliefern zu lassen. Das konnte doch nicht ich sein, der diesen
kranken Shit schrieb? Und doch war dieser kranke Shit jedes Mal mit
meinem Nicknamen versehen: Kellerkind stand darüber. Das war ich.
Kein Zweifel; kein anderer traute sich, in meinem Namen zu schreiben.
In dieser virtuellen Welt gab es auch ungeschriebene Gesetze; und da
ich jemand war und einen gewissen Kreis an Bewunderern besaß, durfte
ich mich darauf verlassen. Mir begann, vor mir zu grauen. Schon
mehrere Nächte hatte ich gar nicht mehr schlafen können. Die kleine
schwarze Spinne durfte nicht mehr erscheinen. Das wäre zu viel für
mich gewesen.
Eines
Morgens wachte ich im Krankenhaus auf. Ich wusste gar nichts mehr,
nur noch, dass ich um jeden Preis wach bleiben muss wegen der Spinne.
Moment mal – bin ich da tatsächlich aufgewacht? Dann muss ich ja
geschlafen haben. Wo war mein Computer? Ich musste doch ganz schnell
wissen, was mein momentaner Erzfeind wieder geantwortet hat. Doch
weit und breit kein Computer. Das helle Sonnenlicht stach mir in die
Augen. Der Kopf brummte, ob das wohl die Spin... nein das konnte
nicht sein. Die Spinne existierte nur im Traum. Ich schloss die Augen
und fiel in einen leichten, aber wohltuenden, traumlosen Schlaf.
Später,
als ich wieder wach war, erklärte mir der junge Arzt, weshalb ich
hier war. Durch den Schlafmangel und den inneren Stress hatte ich
einen Zusammenbruch erlitten. Meine Eltern haben den Krankenwagen
gerufen, nachdem ich zunächst in meinem kleinen Kellerraum alles
kurz und klein geschlagen habe und sie mich dann bewusstlos auf dem
Boden aufgefunden hatten. Langsam gewöhnte ich mich an das
Tageslicht. Damit begann ich auch, meine Umwelt wahrzunehmen. Auf dem
anderen Bett lag ein Mittdreißiger, der mit vielen Verbänden
versehen war. Irgendwann am nächsten Tag kamen wir miteinander ins
Gespräch. Auf meine Frage hin erzählte er seine Geschichte.
„Ich
bin in meiner Freizeit häufig im Internet unterwegs“, erzählte
er, „und da gab es vor ein paar Wochen so eine Online-Diskussion,
in welcher mir ein bekannter Kommentator vorwarf, ein Neonazi zu
sein. Darüber dachte ich einige Tage nach und kam zum Schluss, dass
er recht hatte. Mein Problem war aber, dass ich nur sah, wie sehr ich
mich in den letzten Jahren verändert habe, aber ich wusste keinen
Ausweg, wie ich wieder ich selbst werden konnte. Ich wollte die Welt
vor mir verschonen, kaufte eine letzte Flasche Jack Daniels und
wollte mein Auto in den nächsten Baum manövrieren. Durch den
Alkohol war meine Sicht beschränkt, sodass ich den Baum nur mit der
Ecke der Beifahrerseite erwischte. Trotzdem war der Aufprall stark
genug, um mir einen doppelten Beinbruch und einige weitere Blessuren
zu bescheren. Seither bin ich hier ans Bett gebunden. Dem Beinbruch
ist es übrigens zu verdanken, dass ich mich hier nicht auch schon
aus dem Fenster gestürzt habe.“
Mir
wurde kalt und heiß bei dieser Erzählung. Konnte es sein, dass...
Ich musste es wissen. So fragte ich ihn nach seinem Namen und wie er
online heiße. „Johann Goldmann ist mein Name, Jogo81 mein
Nickname. Online war es der anonyme aber bekannte User mit dem
Nicknamen Kellerkind, mit dem ich so oft aneinander geraten bin.“
Da hatte ich nun den Käse. Ich stand auf, trat an sein Bett und
streckte ihm die Hand hin: „Markus Frei, Kellerkind. Ähnliches
Problem. Nervenzusammenbruch durch Stress und Schlafmangel.“ So
entstand meine erste richtige Freundschaft – und ausgerechnet mit
meinem langjährigen Erzfeind.
Hans,
wie ich ihn seither nenne, hat in seinem Krankenhausaufenthalt etwas
Spannendes entdeckt. Auf seinem Nachttisch lag ein Buch, das in jedem
Zimmer des Krankenhauses zu finden ist. Er sagte mir: Markus, ich
wollte die Welt mit Liebe füllen, und habe nur Hass gesät.“ Wie
bekannt mir das vorkam. „Genauso ist es mir auch ergangen.“ -
Weißt du denn jetzt, was Liebe ist?“ Ich schüttelte den Kopf. Er
erzählte mir: „So ganz verstanden hab ich das noch nicht, aber
schau mal, hier drin gibt es ganz viele Autoren, die von der Liebe
schreiben. Am schönsten finde ich das hier: 'Niemand liebt mehr als
einer, der sein Leben für seine Freunde opfert.' Das steht bei einem
Johannes. Der ist doch mein Namensvetter. Im 15. Kapitel steht das,
und zwar Vers 13. Verstehst du es?“ Mir traten Tränen in die
Augen.
„Schau
mal, Hans, ich glaube wir zwei waren gar nie so weit voneinander
entfernt. Auch wenn wir uns als Erzfeinde betrachteten, waren wir nur
Menschen, die rechts und links vom selben Pferd gefallen sind. Der
eigentliche Gegensatz zu uns beiden ist in diesem Spruch enthalten.
Wir beide dachten, dass es Liebe sei, andere zu zwingen, unser Leben
und Denken zu übernehmen. Doch wahre Liebe ist es, wenn man auch
dann dafür sorgt, dass es anderen gut geht, wenn sie eine andere
Meinung haben, ohne jeglichen Zwang. Aber ich muss da auch noch
weiter nachdenken.“ So begannen wir, zu zweit in diesem weit
verbreiteten und doch so selten gelesenen Buch zu lesen und
miteinander darüber zu reden.
Fragen
über Fragen
Es
gibt vieles in diesem Buch, was uns beschäftigte. Da gab es etwa
eine Szene, die uns doch recht brutal erschien. Der Held des Buches
machte sich eine starke Peitsche aus mehreren Lederriemen und
prügelte Menschen aus dem Tempel raus. War das wohl doch nur wieder
dieselbe Liebe, die andere zwang, auch gegen ihren Willen das Gute
anzunehmen? Wir riefen den Krankenhauspfarrer und er erklärte uns
dies. Diese Leute, die da rausgeworfen wurden, hatten in Wirklichkeit
andere Menschen davon abgehalten, in den Tempel zu kommen. Sie
trieben Wucher, sodass nur die Reichen sich leisten konnten, dorthin
zu gehen und ihren Gottesdienst zu machen. Das war das Problem. Das
Gespräch mit dem Pfarrer war sehr interessant, und so hatten wir den
Wunsch, noch viel mehr zu erfahren.
Doch
mit Kirchen hatten wir ein Problem. Waren das nicht so große
Versammlungen von Erzheuchlern? Kaum waren wir beide wieder aus dem
Krankenhaus, wollten wir einen Versuch wagen und gingen in
verschiedene Kirchen unserer Stadt. Da gab es sehr viele
verschiedene; wer hätte gedacht, dass es im Zeitalter von
Online-Gottesdiensten noch so viele Kirchen gab? Diese Vielfalt
fanden wir schön, aber irgendwie kam es immer wieder dazu, dass wir
enttäuscht wurden. Zwang, Heuchelei, nicht eingehaltene Versprechen,
und so weiter. Wir mussten lernen, dass auch die Kirchenmenschen
immer noch „nur Menschen“ waren.
Irgendwann
meinte Hans: „Markus, wir haben jetzt in einem Jahr schon über 15
davon angeschaut. Ich glaube, wir sollten uns langsam damit abfinden,
dass wir alle Menschen sind und uns mal festlegen, wo wir dazugehören
wollen.“ Er hatte recht. Und wir beide waren inzwischen schon so
gute Freunde geworden, dass wir uns entschlossen, diesen Schritt
gemeinsam zu tun. Was immer kommen möge, wir wollen Freunde bleiben.
Auch wenn wir wussten, dass wir einander und auch andere Menschen
immer wieder enttäuschen werden.
Unser
Wissensdurst zu diesem Buch, das uns so viel von der Liebe erzählt,
brachte uns auf die Idee: Wir wollen zusammen eine Bibelschule
besuchen, damit wir noch mehr dazu erfahren könnten. Inzwischen
hatte ich eine Arbeit; ich durfte bei einem großen Discounter Regale
einräumen. Da ich immer noch bei den Eltern wohnte, konnte ich mir
davon etwas ansparen. So gingen wir nach einem weiteren Jahr in
unserer inzwischen regelmäßig besuchten Kirche auf die Bibelschule.
Hier beschlossen wir, dass wir unsere Geschichte aufschreiben
wollten, damit noch mehr Menschen von unseren Erlebnissen lernen und
profitieren dürfen.
Wir
sind noch ganz am Anfang einer neuen Geschichte; und wir sind sicher,
dass Gott noch mehr Geschichte schreiben wird. Vielleicht auch
Weltgeschichte, so wie ich mir das schon als Kind erträumt hatte.
Wer weiß? Doch eins ist sicher: Er hat den besten Plan für unser
Leben, und wenn wir lernen, im Kleinen treu zu sein und unseren
Mitmenschen zu dienen, dann wird auch etwas Größeres kommen. Damit
ist unsere kurze Erzählung zu
ENDE.