Zum 450.
Todestag von Johannes Calvin
Vor 450 Jahren (am 27.
Mai 1564) ist der Genfer Reformator Johannes Calvin gestorben. Auch
dann, wenn man nicht in allen Dingen seine Meinung vertritt, ist sein
Werk von sehr großer Bedeutung – auch und gerade für die weitere
Entwicklung westlichen Geschichte und Kultur der letzten 500 Jahre.
Ich staune immer wieder erneut über seine große Gottes- und
Menschenkenntnis, die sich auch besonders in seiner „Institutio“
niederschlägt. Hier die ersten Abschnitte daraus:
„1. Ohne
Selbsterkenntnis keine Gotteserkenntnis
All unsere Weisheit,
sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und
zuverlässig ist, umfasst im Grunde eigentlich zweierlei: Die
Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. Diese beiden aber
hängen vielfältig zusammen, und darum ist es nun doch nicht
einfach, zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere
aus sich heraus bewirkt.
Es kann nämlich erstens
kein Mensch sich selbst betrachten, ohne sogleich seine Sinne darauf
zu richten, Gott anzuschauen, in dem er doch „lebt und webt“
(Apg. 17, 28). Denn all die Gaben, die unseren Besitz ausmachen,
haben wir ja offenkundig gar nicht von uns selber. Ja, selbst unser
Dasein als Menschen besteht doch nur darin, dass wir unser Wesen in
dem einigen Gott haben! Und zweitens kommen ja diese Gaben wie
Regentropfen vom Himmel zu uns hernieder, und sie leiten uns wie
Bächlein zur Quelle hin.
Noch viel deutlicher aber
wird gerade in unserer Armut der unermessliche Reichtum aller Güter
erkennbar, der in Gott wohnt. Besonders zwingt uns der jämmerliche
Zerfall, in den uns der Abfall des ersten Menschen hineingestürzt
hat, unsere Augen emporzurichten: hungrig und verschmachtend sollen
wir von Gott erflehen, was uns fehlt, aber auch in Furcht und
Erschrecken lernen, demütig zu sein. Denn der Mensch birgt ja in
jeder Hinsicht eine Welt von Elend in sich, und seitdem wir der
göttlichen Zier verlustig gegangen sind, macht eine beschämende
Blöße unendlich viel Schande offenbar. Ist es aber so, dann muss ja
notwendig jeder Mensch vom Bewusstsein seines heillosen Zustandes
wenigstens zu irgendeinem Wissen von Gott getrieben werden. Wir
empfinden unsere Unwissenheit, Eitelkeit, Armut, Schwachheit, unsere
Bosheit und Verderbnis – und so kommen wir zu der Erkenntnis, dass
nur in dem Herrn das wahre Licht der Weisheit, wirkliche Kraft und
Tugend, unermesslicher Reichtum an allem Gut und reine Gerechtigkeit
zu finden ist. So bringt uns gerade unser Elend dahin, Gottes Güter
zu betrachten, und wir kommen erst dann dazu, uns ernstlich nach ihm
auszustrecken, wenn wir angefangen haben, uns selbst zu missfallen.
Denn von Natur hat jeder Mensch viel mehr Freude daran, sich auf sich
selbst zu verlassen, und das gelingt ihm auch durchaus – solange er
sich selbst noch nicht kennt, also mit seinen Fähigkeiten zufrieden
ist und nichts von seinem Elende weiß oder wissen will. Wer sich
also selbst erkennt, der wird dadurch nicht nur angeregt, Gott zu
suchen, sondern gewissermaßen mit der Hand geleitet, ihn zu finden.
2. Ohne
Gotteserkenntnis keine Selbsterkenntnis
Aber andererseits kann
der Mensch auf keinen Fall dazu kommen, sich selbst wahrhaft zu
erkennen, wenn er nicht zuvor Gottes Angesicht geschaut hat und dann
von dieser Schau aus dazu übergeht, sich selbst anzusehen. Denn uns
ist ja ein mächtiger Hochmut geradezu angeboren, und darum kommen
wir uns stets durchaus untadelig, weise und heilig vor, wenn uns
nicht handgreifliche Beweise unsere Ungerechtigkeit, Beflecktheit,
Torheit und Unreinheit vor Augen halten und uns so überführen. Dazu
kommt es aber gar nicht, wenn wir bloß auf uns selber sehen und
nicht zugleich auf den Herrn; denn er ist doch die einzige
Richtschnur, nach der ein solch Urteil über uns selbst erfolgen
kann. Wir sind ja von Natur alle zur Heuchelei geneigt, und so
befriedigt uns schon irgendein leerer Schein von Gerechtigkeit
ebensosehr, wie es die Gerechtigkeit selber könnte. Und weil unter
uns und um uns rein nichts zu erblicken ist, das nicht von
schrecklicher Unreinigkeit befleckt wäre, so begeistert uns, solange
wir über die Grenzen menschlicher Unreinheit nicht hinausblicken,
schon das, was bloß ein bisschen weniger besudelt ist, weil wir es
bereits für rein halten. Es geht wie bei einem Auge, das
ausschließlich an den Anblick schwarzer Farbe gewöhnt ist – und
das dann schon für schneeweiß hält, was vielleicht grau oder
geschwärztes Weiß ist. Überhaupt können wir an dem leiblichen
Sinnesorgan ein Beispiel nehmen, wie sehr wir in der Beurteilung
unserer inneren Tüchtigkeit Trugbildern erliegen. Denn wenn wir am
lichten Tage die Erde anschauen oder das, was uns umgibt, so wähnen
wir wohl, ein starkes und durchdringendes Sehvermögen zu besitzen.
Sobald wir aber die Sonne mit offenem Auge stracks anblicken wollen,
so wird jene Sehkraft, die den Dingen dieser Erde gegenüber völlig
ausreichte, ganz überwältigt und geblendet, so dass wir bekennen
müssen, dass diese Sehkraft, so scharf sie im Irdischen war, gegen
die Sonne geradezu Schwachsichtigkeit ist! Genau so ist es bei der
Betrachtung unseres geistlichen Besitzes. Lenken wir den Blick nicht
über die Erde hinaus, so sind wir mit der eigenen Gerechtigkeit,
Weisheit und Tugend reichlich zufrieden und schmeicheln uns mächtig
– es fehlte, dass wir uns für Halbgötter hielten! Aber wenn wir
einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, wenn wir
bedenken, was er für ein Gott sei, wenn wir die strenge
Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend erwägen,
der wir doch gleichförmig sein sollten – so wird uns das, was uns
zuvor unter dem trügerischen Gewand der Gerechtigkeit anglänzte,
zur fürchterlichsten Ungerechtigkeit; was uns als Weisheit wundersam
Eindruck machte, wird grausig als schlimmste Narrheit offenbar, was
die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste
Untüchtigkeit erfunden! So wenig kann vor Gottes Reinheit bestehen,
was unter uns noch das Vollkommenste zu sein schien.
3. Der Mensch vor
Gottes Majestät
Daher kommt es, dass nach
vielfach wiederholten Berichten der Schrift die Heiligen von Furcht
und Entsetzen durchgerüttelt und zu Boden geworfen wurden, sooft
ihnen Gottes Gegenwart widerfuhr. Menschen, die zuvor, ohne seine
Gegenwart, sicher und stark dastanden – jetzt, da er seine Majestät
offenbart, sehen wir sie derart Schrecken und Entsetzen gejagt, dass
sie geradezu in Todesangst niederfallen, ja vor Schrecken vergehen
und fast zunichte werden! Daran merken wir, dass den Menschen erst
dann die Erkenntnis seiner Niedrigkeit recht ergreift, wenn er sich
an Gottes Majestät gemessen hat. Beispiele solcher Erschütterungen
haben wir im Richterbuche wie auch bei den Propheten. Es ging soweit,
dass im Volke Gottes die Redewendung in Gebrauch kam: „Wir müssen
sterben, denn wir haben den Herrn gesehen“ (Ri. 13, 22; Jes. 6, 5;
Ez. 1, 28; u. a.). Und wenn das Buch Hiob (z.B. Kap. 38 ff.) den
Menschen durch das Bewusstsein seiner Torheit, Ohnmacht und
Beflecktheit zu Boden werfen will, so dienen ihm stets die
Beschreibungen von Gottes Weisheit, Kraft und Reinheit zum Beweise.
Das ist berechtigt: Wir sehen, wie auch Abraham, nachdem er einmal
von nahem des Herrn Herrlichkeit erschaut hat, um so besser erkennt,
dass er „Erde und Asche“ ist (Gen. 18, 27). Elia vermag sein
Nahen nicht mit unverdecktem Antlitz zu ertragen (1. Kön. 19, 13).
Solcher Schrecken liegt in seinem Anblick! Was soll auch der Mensch
tun, der doch Staub ist und ein Wurm, wenn selbst die Cherubim in
heiliger Scheu ihr Angesicht verhüllen müssen! (Jes. 6, 2). Eben
dies spricht Jesaja aus: „Der Mond wird sich schämen und die Sonne
mit Schande bestehen, wenn der Herr der Heerscharen König sein wird“
(Jes. 24, 23). Das heißt: wenn er seine Herrlichkeit in voller Nähe
offenbaren wird, dann versinkt auch das sonst Leuchtendste in
Finsternis.“
(Johannes Calvin,
Institutio, Unterricht in der christlichen Religion, übersetzt von
Otto Weber, Buchhandlung des Erziehungsvereins Neukirchen, Kreis
Moers, 1936)