Wahrheit
ist, was überzeugt. Jeder kann sein, was er will. Freiheit ist nicht
so wichtig wie Sicherheit und Gleichheit. Es kann keine objektive
Wahrheit geben. Wahrheit wird von der Gesellschaft konstruiert.
Gefühle sind wichtiger als Tatsachen. Jeder hat seine eigene
Erfahrung und Auffassung. Der Mensch ist das Maß aller Dinge.
Könnten
diese obigen Sätze unserer Zeit entstammen? Ja, sie könnten. Und
manch einer hält unsere Zeit für einzigartig. Doch könnten obige
Zeilen ebenso gut im Athen vor 2500 Jahren gesagt oder geschrieben
worden sein. Der letzte Satz ist übrigens genau in jener Zeit
entstanden – es ist einer der ganz wenigen Sätzen, die man mit
Sicherheit Protagoras zuschreiben kann.
Vor
ungefähr 2500 Jahren war Athen eine blühende Stadt. Der technische
Fortschritt und immer neue wissenschaftliche Entdeckungen prägten
das Leben. Die Kunst hatte einen wichtigen Platz im Leben
eingenommen. Athen war eine Demokratie – zwar nur eine der freien
Männer, aber trotzdem hatte so jede Familie ein Mitspracherecht. Der
Mittelstand war längere Zeit gewachsen und hatte Hoffnungen geweckt.
Die Menschen sahen immer mehr, wieviel sie aus eigener Kraft
erreichen konnten – mit Hilfe von Werkzeugen, Tieren und
Angestellten. Der griechische Götterhimmel war tot – man feierte
zwar die wichtigsten Feste zu Ehren der Götter, aber hauptsächlich
deshalb, weil es die einzigen freien Tage des Jahres waren und weil
man dazu verpflichtet war. Der griechische Götterhimmel war
Staatsreligion. Doch längst war das alles nur noch tote Tradition.
Wer nicht bei dieser staatlichen Götteranbetung teilnahm, dem drohte
Verbannung oder gar Todesstrafe.
Der
technische Fortschritt stärkte das Selbstbewusstsein der Athener
enorm. Zugleich aber wuchs das neue Wissen derart rasant an, dass man
es irgendwie sammeln und auch weitergeben musste. Diese Aufgabe als
Universalgelehrte nahmen die Sophisten auf. Sie studierten das
Wissen, sammelten es, und zogen umher, um es jedem anzubieten, der
ihnen genug Geld dafür zahlte. Die Sophisten merkten bald, dass
manche Dinge dieser Wissenschaften im krassen Widerspruch zueinander
standen. Statt einer universalen Theorie, die alle Dinge umfasst, gab
(und gibt) es nur mehrere einzelne Theorien, die nicht vereinbar
sind. So kamen sie zum Schluss, dass alles relativ sei. Wahrheit sei
nichts Absolutes, sondern der einzelne Mensch sei immer das Maß
aller Dinge.
Was
musste nun kommen? Plötzlich wurde die Rhetorik zum wichtigsten
Zweig der Wissenschaften. Wie kann man überzeugend reden? In der
athenischen Demokratie war dies besonders wichtig, denn jeder konnte
mitreden, und wer überzeugte, befahl. So wurde aber zugleich aus
dieser Demokratie eine Postdemokratie. Es wurde zu einer
„Rhetorikratie“, eine Oligarchie der wenigen, in Rhetorik gut
geschulten, reichen Bürger. Immer wieder kam es zu
bürgerkriegsähnlichen Aufständen, Absetzungen, Verbannungen, die
das Leben der Demokratie schwächten. Statt Fakten zählten die
Gefühle, welche durch gelehrte Reden hervorgerufen wurden. Das
Problem mit den Gefühlen in der Politik ist, dass sie ungerecht
sind. Angst, Zorn, Mitleid, Empörung haben in der Politik nichts
verloren. Gefühle ersetzen die Gerechtigkeit und führen
zwangsläufig zu einem Zustand, den die Bibel „Ansehen der Person“
nennt. Gerechtigkeit wäre, wenn alle gleich behandelt werden –
ohne Ansehen ihres Standes, Geschlechts, Reichtums (oder Armut), etc.
Auch heute geht die Gerechtigkeit unter – zugunsten einer falsch
verstandenen Pseudo-Gerechtigkeit, die versucht, Unterschiede durch
politische Aktionen wie etwa Steuern, Gesetze, oder individuelle
Behandlung vor Gericht, einzuebnen.
Die
antiken Sophisten waren postliberal. Eigentlich sollte die attische
Demokratie ja die Freiheit des Einzelnen schützen und stärken. Die
Sophisten unterstützten die Reichen, die politische Ambitionen
hatten und ihnen Geld für ihr Wissen und den Unterricht in der
Rhetorik bezahlen konnten. Auch die heutigen Sophisten rufen wieder
nach einem starken Staat mit Überwachung und Schutz vor dem
Terrorismus. Sie sind einerseits bereit, mehr überwacht zu werden,
aber zugleich hat man dann Probleme mit den USA, ist lieber für die
Russen, wo es mit der Demokratie auch nicht weit her ist, und
schimpft über die NSA. Was wäre die bessere Alternative? Wenn wir
weiterhin Demokratie wollen, dann wird nur eines übrig bleiben. Wir
müssen uns darum bemühen. Demokratie ist – anders als die meisten
von der Demokratie beschenkten Menschen denken – kein
automatischer, immer bleibender Zustand. Sie lebt davon, dass sich
der Einzelne einbringt und mitarbeitet. Ohne die vielen Einzelnen mit
ihren unterschiedlichen Sichtweisen, Ideen und Alternativen wird die
Politik zur alternativlosen Oligarchie – zu einer Herrschaft der
Wenigen, in der nur noch abgenickt wird, was sowieso schon längst
feststeht.
In
die Zeit der antiken Sophisten wurde Sokrates geboren, etwas später
sein wichtigster Schüler Platon, sowie danach dessen Schüler
Aristoteles. Diese drei Philosophen versuchten, eine Antwort auf die
Sophisten zu geben. Sie gingen den Fragen nach, wie man richtig leben
kann, auch in Zeiten, in denen der Götterhimmel nichts mehr zu
bieten hatte. Zunächst war ihnen wichtig, dass Wissen ein
demokratisches Gut ist. Sie gingen nicht nur zu den Reichen, sondern
redeten mit allen, die sich dafür interessierten. Jeder darf das
Wissen haben, jeder darf und kann über die großen Fragen dieser
Welt nachdenken. Sie alle waren sich darin einig, dass die Realität,
die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, tatsächlich real ist, und
ebenso auch, dass das richtige Wissen zum rechten Handeln führen
wird.
Darüber
hinaus konnten sie recht wenig Gemeinsamkeiten finden. Jeder übernahm
manch einen Gedanken seines Lehrers, aber drehte die meisten davon
auf den Kopf. Für Platon war das eigentlich Realere das Urbild
hinter den einzelnen Erscheinungen in der Welt. Die Pferdheit ist
realer als das einzelne, unterschiedliche Pferd. Für Aristoteles
existiert die Pferdheit gar nicht, sondern nur das einzelne Pferd,
und er hält die Pferdheit für eine rein menschliche Erfindung. Aus
biblischer Sicht können wir beiden bedingt zustimmen. Gott hat die
Pferdheit ausgedacht, nämlich die Spezies namens Pferd, und dazu
durch sexuelle Fortpflanzung jedes einzelne Pferd geschaffen. Beides
ist gleichermaßen real: Gottes Idee der „Pferdheit“ und die
einzelnen „Erscheinungen“ dieser Idee Gottes, nämlich alle real
existierenden und jemals real existiert habenden Pferde. Einheit und
Vielfalt entstammen Gottes Wesen, da Gott der Dreieine ist, und wenn
wir unsere Welt kennenlernen wollen, dann werden wir – ob wir das
wollen oder nicht; ob wir diese Wahrheit annehmen oder verdrängen
und unterdrücken, das ist uns überlassen – in einem gewissen Maß
auch Gottes Wesen kennenlernen.
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