Vor einigen Jahrzehnten hat C. S. Lewis, besonders durch seine Chroniken von Narnia bekannt geworden, einen wertvollen Aufsatz über das Lesen der alten Bücher geschrieben. Er ist im Band "God in the Dock" zu finden. Hier ein Auszug von diesem Aufsatz:
"Es
gibt eine merkwürdige, weit verbreitete Idee, dass zu allen Themen
die alten Bücher nur von den Fachleuten gelesen werden sollen, und
der Laie sich mit den modernen Büchern begnügen soll. So habe ich
als Tutor für englische Literatur empfunden, dass wenn der
durchschnittliche Student etwas über den Platonismus herausfinden
wollte, es das Letzte ist, was er tun würde, dass er eine
Übersetzung von Plato aus dem Regal der Bibliothek nehmen würde und
das Symposium lesen. Viel eher würde er ein paar langweilige moderne
Bücher lesen, die zehn mal so lang sind, mit vielen „-Ismen“
drin und wer davon beeinflusst wurde, und sich gerade mal zwölf
Seiten mit dem befassen, was Plato tatsächlich sagte. Der Fehler ist
eigentlich eher ein liebenswerter, denn er entspringt der Demut. Der
Student ist nun halbwegs verängstigt, einen von den Philosophen von
Angesicht zu Angesicht zu treffen. Er fühlt sich unzulänglich und
denkt, er würde ihn nicht verstehen. Doch wenn er nur wüsste, dass
der große Mann gerade wegen seiner Größe viel besser verständlich
ist als der moderne Kommentator. Der einfachste Student wird fähig
sein, wenn nicht alles, so doch einen sehr großen Teil von dem zu
verstehen, was Plato sagte; aber schwerlich wird irgendwer fähig
sein, manche der modernen Bücher über den Platonismus zu verstehen.
Als Lehrer war es deshalb immer einer meiner größten Bestrebung,
die jungen Leute zu überzeugen, dass das Wissen aus erster Hand zu
erwerben nicht nur mehr Wert hat als Wissen aus zweiter Hand, sondern
dass es normalerweise auch viel einfacher und angenehmer zu erwerben
ist.
Dieser
irrtümliche Vorzug für die modernen Bücher und die Scheu vor den
alten ist nirgendwo zügelloser als in der Theologie. Wo immer man
einen kleinen Studienkreis von christlichen Laien findet, kann man
sich fast gewiss sein, dass sie nicht die Apostel Lukas oder Paulus
oder den Kirchenvater Augustinus oder Thomas von Aquin oder Hooker
oder Butler lesen, sondern M. Berdyaev oder M. Maritain oder M.
Niebuhr oder Miss Sayers oder gar mich.
Nun,
dies erscheint mir auf den Kopf gestellt. Natürlich, da ich selbst
ein Autor bin, wünsche ich nun nicht, dass der durchschnittliche
Leser
keine modernen Bücher mehr liest. Aber wenn er sich entscheiden
müsste, entweder nur die neuen oder nur die alten Bücher zu lesen,
so würde ich ihm den Rat geben, die alten zu lesen. Und ich würde
ihm diesen Ratschlag genau deshalb geben, weil er ein Laie ist und
deshalb viel weniger gut geschützt vor den Gefahren einer exklusiv
modernen Diät als der Experte. Ein neues Buch ist immer noch auf dem
Prüfstand und der Amateur ist nicht in der Position, um das zu
beurteilen. Es muss getestet werden im Licht der Gesamtheit des
christlichen Denkens durch all die Jahrhunderte hindurch, und all
seine verborgenen Auswirkungen (die ja oft vom Autor selbst gar nicht
gewollt sind) müssen zuerst ans Licht kommen. Oft kann es gar nicht
ganz verstanden werden, ohne dass man eine ganze Reihe anderer
moderner Bücher kennt. Wenn du um elf Uhr zu einem Gespräch
hinzustößt, welches um acht Uhr begonnen hat, wirst du oft gar
nicht die ganze Tragweite dessen sehen, was gesagt wurde.
Bemerkungen, die dir sehr normal erscheinen, werden Gelächter oder
Verwirrung hervorbringen, ohne dass du verstehst, warum – der Grund
liegt natürlich darin, dass die vorangehenden Stationen der
Diskussion diesen einen besonderen Punkt gegeben hat. In derselben
Weise ist es möglich, dass Aussagen in einem modernen Buch, die
total normal aussehen, an ein anderes Buch gerichtet sind; auf diese
Weise kann es geschehen, dass du dazu geführt wirst, etwas zu
akzeptieren, was du sonst empört abgelehnt hättest, wenn du seine
tatsächliche Bedeutung kennen würdest. Die einzige Sicherheit, die
wir haben können, besteht darin, dass wir einen Standard des klaren,
zentralen christlichen Glaubens haben („bloßes Christentum“, wie
Baxter es nannte), welcher die Kontroversen der eigenen Zeit in ihre
richtige Perspektive bringt. Es
ist eine gute Regel, nachdem man ein neues Buch gelesen hat, sich nie
zu erlauben, schon wieder ein neues Buch zu lesen, bis man
zwischendurch ein altes Buch gelesen hat. Wenn dir das zu viel ist,
solltest du mindestens pro drei neue Bücher ein altes lesen.
Jedes
Zeitalter hat seinen eigenen Standpunkt. Es ist besonders gut darin,
bestimmte Wahrheiten zu sehen und neigt besonders zu bestimmten
Fehlern. Wir alle brauchen die Bücher, welche die charakteristischen
Fehler unserer Zeit korrigieren. Und das bedeutet: Die alten Bücher.
Alle zeitgenössischen Autoren haben ein Stück weit den
zeitgenössischen Standpunkt – sogar jene, wie ich selbst, welche
ihm am meisten zu opponieren zu scheinen. Nichts macht mich mehr
betroffen, wenn ich die Kontroversen der vergangenen Jahrhunderte
lese, als die Tatsache, dass beide Seiten normalerweise Dinge
voraussetzten, ohne sie in Frage zu stellen, von denen wir einiges
absolut ablehnen müssen. Sie dachten, sie wären einander derart
entgegengesetzt, wie es nur geht, aber in Wahrheit waren sie im
Geheimen Verbündete – verbündet miteinander gegen frühere und
spätere Zeiten – durch eine gute Menge an gemeinsamen Annahmen.
Wir können uns sicher sein, dass die charakteristische Blindheit des
20. Jahrhunderts – die Blindheit, von der die Nachkommenschaft
fragen wird: „Aber wie konnten sie nur so etwas gedacht haben?“ -
genau dort liegt, wo wir sie nie vermutet hätten, und das betrifft
etwas, worüber sich ungetrübte Übereinstimmung zwischen Hitler und
Präsident Roosevelt oder zwischen H. G. Wells und Karl Barth ist.
Niemand von uns kann dieser Blindheit vollkommen entgehen, aber wenn
wir nur moderne Bücher lesen, werden wir sie mit Sicherheit
vergrößern und unsere Wachsamkeit davor schwächen. Wo sie wahr
sind, da werden sie uns Wahrheiten geben, die wir zum Teil schon
kennen. Wo sie falsch sind, da werden sie den Fehler verstärken, an
dem wir schon gefährlich erkrankt sind. Das einzige Mittel zur
Linderung ist es, die saubere Meeresbrise der Jahrhunderte durch
unseren Verstand wehen zu lassen, und dies kann nur durch das Lesen
alter Bücher geschehen. Natürlich gibt es keine Magie des
Vergangenen. Die Menschen waren dann nicht klüger als als sie es
jetzt sind; sie machten etwa gleich viele Fehler wie wir. Aber nicht
dieselben Fehler. Sie werden uns nicht in unseren Fehlern
schmeicheln, die wir bereits begehen, und ihre eigenen Fehler, die
jetzt offensichtlich und greifbar sind, werden uns nicht in Gefahr
bringen. Zwei Köpfe sind besser als einer, nicht weil einer
unfehlbar wäre, sondern weil es unwahrscheinlich ist, dass beide in
dieselbe Richtung falsch gehen. Um sicher zu gehen, wären die Bücher
der Zukunft eine ebenso gute Möglichkeit zur Korrektur wie die
Bücher der Vergangenheit, aber leider können wir nicht an sie
gelangen."
(aus: C.
S. Lewis – Vom Lesen der alten Bücher, in: God in the Dock; eigene Übersetzung)
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