Immer
wieder stoße ich in Diskussionen auf Missverständnisse und auch des
Öfteren mal auf bewusste Instrumentalisierung und damit Missbrauch
der Kirchengeschichte. Solch ein Umgang ist auch in zahlreichen
Büchern häufig anzutreffen. Ich stelle heute eine kleine Auswahl
der gängigsten Konzepte vor und kommentiere sie jeweils kurz.
1.
„Wir leben heute – was geht mich da die Geschichte an?“ So
klar würden es wohl die wenigsten ausdrücken, aber diese Haltung
ist zunehmend zu bemerken. Geschichte wird als Disziplin der
Professoren im Elfenbeinturm der Theorie betrachtet. Der Umgang mit
Geschichte, der an der Schule gefördert wird (häufig besteht ein
großer Teil des Geschichtsunterrichts aus der Zeit des und seit dem
zweiten Weltkrieg, als ob es davor nichts gegeben hätte), hat mit zu
dieser Haltung geführt. Geschichtsvergessenheit führt zu
Identitätsverlust. Viele Menschen wissen nicht mehr, wer sie sind,
sie bestehen nur noch aus den Wünschen und Begierden des Hier und
Jetzt.
2.
„Wir leben in einer ganz außerordentlich besonderen Zeit – die
Kirchengeschichte hat uns schlicht nichts mehr zu sagen.“ So
oder ähnlich wird gerne argumentiert, wenn man erklären will, warum
das Bisherige einfach weggelassen und unhinterfragt durch das Neue
(was auch immer) ersetzt werden soll. Hauptsache wir machen es anders
als früher – das Alte ist überholt. Wir leben in einer
„Umbruchzeit“, wir sind etwas so Besonderes, da darf man nicht
einfach das Bisherige übernehmen. Heutzutage verstehen die Menschen
nicht mehr, was früher gepredigt oder gemacht wurde, das muss man
weglassen oder ersetzen. Dieses Denken ist Hochmut. Der Mensch ist
immer noch derselbe gefallene Mensch, der dieselbe Selbsterkenntnis,
Sündenerkenntnis, Gotteserkenntnis und Erlösung braucht wie in
jedem anderen Jahrhundert auch.
3.
„Die Kirchengeschichte zeigt uns eine Unzahl von gescheiterten
Versuchen, die objektive Wahrheit zu erkennen.“ Diese Aussage
dient dazu, die gesamte Geschichte mit einer Handbewegung
wegzuwischen und damit zu sagen: Das Einzige, was man heute noch aus
der Kirchengeschichte lernen kann, ist, es anders zu machen als die
Menschen bisher. Der Kirchengeschichte wird vorgeworfen, sie sei an
den Spaltungen der Kirchen schuld. Natürlich gab es in der
Kirchengeschichte viele Debatten und auch viele nötige Trennungen.
Diese sind aber häufig mehr Segen als Fluch gewesen. Das müssen wir
anerkennen. Kirchliche Trennungen sollen nicht bewusst gesucht
werden, aber häufig sind notwendig, um die Kirche zu schützen.
4.
„Die Reformation zeigt uns, dass man sich auch über viele
Jahrhunderte hinweg irren kann.“ Nun wird es langsam subtiler.
Interessanterweise konnte mir bislang niemand ein wichtiges Thema
nennen, in dem sich die gesamte Christenheit während vieler
Jahrhunderte geirrt haben soll. Normalerweise haben schwere Irrtümer
immer eine oben genannte notwendige Spaltung verursacht, sodass eine
der neuen zwei Gruppen die Wahrheit weitergetragen hat und sie
deshalb nicht untergegangen ist. Deshalb sollten wir auch heute nicht
grundsätzlich spaltungsfeindlich sein. Paulus schreibt, dass
Spaltungen manchmal notwendig sind (1. Korinther 11,18-19)
5.
„Eigentlich hatte Marcion* doch recht.“ *hier könnte man
auch Arius und andere Irrlehrer einfügen. Der deutsche Theologe und
Kulturprotestant Adolf von Harnack hatte gewisse Sympathien für
Marcion. Marcion hatte behauptet, die Bibel sei verfälscht, das Alte
Testament solle kein Teil der Bibel sein und auch andere Bücher des
Neuen Testaments, in Jesus und die frühe Kirche den Juden gegenüber
freundlich dargestellt werden, ließ er in seinen Gemeinden aus der
Bibel entfernen. Übrigens waren die Deutschen Christen im dritten
Reich stark von Harnacks Marcion geprägt. Aber auch heute findet man
immer mal wieder ähnliche Sichtweisen, die frühe Irrlehrer
rehabilitieren wollen. Wenn man den Gott des Alten Testaments gegen
den Gott des Neuen Testaments auszuspielen versucht, tut man nichts
anderes. Ich bin sehr dankbar für die klaren Worte, die die frühen
Konzilien diesen Irrlehren gegenüber gefunden hatten und wünschte
mir auch für heute mehr davon.
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