Ich lese zur Zeit das
Buch „Stories of Emergence – Moving from Absolute to Authentic“,
das von Mike Yaconelli editiert und herausgegeben wurde. Es ist ein
Buch, das aus Geschichten besteht. Es sind Geschichten, wie sie von
den jeweiligen Menschen persönlich erlebt wurden. Es sind keine
Biographien, denn weder werden ganze Lebensläufe beschrieben, noch
haben diese Geschichten einen Anspruch der Objektivität. Es sind
Rückblicke auf Zeiten, die diese Menschen, welche ihre Geschichten
erzählen, geprägt haben und sie dazu gebracht, aufzubrechen und
etwas Neues zu tun oder auszuprobieren.
Die Geschichten sind
großteils von bekannten Persönlichkeiten der so genannten „Emerging
Church“ - so kommen etwa Brian D. McLaren, Spencer Burke oder Tony
Jones zu Wort. Kenner der Emerging Church werden mich für meine
Übersetzung von „Stories of Emergence“ mit „Geschichten des
Aufbruchs“ wohl schlagen wollen, denn genau genommen ist mit
„Emergence“ eine Art „Heraustreten“ oder „Sichtbarwerden“
gemeint. Meine Übersetzung ist daher als etwas freier zu verstehen.
Die „Emerging Church“ gibt es genau genommen nicht. Es gibt aber
eine Zahl von Bewegungen, die sich selbst diesem Phänomen zurechnen.
Ganz einfach auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen: Emerging
Church ist eine Bewegung, die aus dem bisher bekannten,
„traditionellen“ Schema ausbrechen will und sich auf die Suche
nach etwas Neuem macht. Und nun wird es interessant: Was genau dieses
Neue ist, wohin der Weg führt, auf den man aufgebrochen ist, weiß
niemand. Anders gesagt: Alles ist möglich. Wenn nur das
Konservative, Traditionelle, das „Moderne“, das Bisherige
aufgebrochen und hinter sich gelassen wird, ist man plötzlich für
alles Neue offen.
Der Untertitel des Buches
lautet „Moving from Absolute to Authentic“, auf deutsch also
ungefähr so viel wie: „Sich vom Absoluten zum Authentischen
bewegen“. Dieser Slogan macht etwas ganz Interessantes deutlich,
nämlich dass die meisten Vertreter der Emerging Church einen
Widerspruch zwischen allem Absoluten und dem authentischen Leben
sehen. Dahinter steckt das Denken und die Weltanschauung der
Postmoderne, die besagt, dass alle Wahrheit relativ sei, es also
keine objektive Wahrheit geben könne. Vertreter der Emerging Church
sagen nun dasselbe etwas anders: Sie sagen nämlich, dass es schon
echte, absolute Wahrheit geben könne, aber dass der Mensch diese
Wahrheit nicht erfassen könne, weil er ein subjektives Wesen sei.
Somit wird hier der Gegensatz zwischen dem Absoluten (dem Anspruch
auf eine absolute Wahrheit oder auf deren Erkenntnis) und dem
Authentischen, also dem echten Leben konstruiert. So ganz vorweg
möchte ich den Autoren des Buches, aber auch anderen Fans der
„Emerging Church Bewegung“ die Schriften von Francis A. Schaeffer
nahelegen – insbesondere jene, die sich mit dem Thema „Geistliches
Leben“ befassen. Ich würde sagen, dass Schaeffer dort sehr schön
dargelegt hat, dass es zwischen dem Absoluten und dem Authentischen
eben gerade keinen Gegensatz gibt.
Das Buch „Stories of
Emergence“ besteht aus 15 Geschichten, von denen eine die
Einleitung (von Mike Yaconelli selbst) und eine die Schlussbemerkung
(von Brian McLaren) ist. Dazwischen sind die 13 übrigen Geschichten
in drei Buchteile gegliedert. Da ich die Zusammenstellung in mehrerer
Hinsicht bedenkenswert finde, möchte ich die einzelnen Teile in je
einem Beitrag vorstellen und sie dann unter die Lupe nehmen. Auch
Geschichten wie in diesem Buch unterliegen dem Befehl Gottes: „Prüft
alles, das Gute behaltet!“ (1. Thessalonicher 5,21)
Mike Yaconelli – Die
unrechtmäßige Gemeinde
Hier zeigt sich bereits,
wie das ganze Buch ein großes rhetorisches Feuerwerk ist: Schon das
Vorwort ist eine dieser Geschichten und leitet in die Problematik
ein. Das gesamte Buch ist auf eine ganz raffinierte Art und Weise
zusammengestellt, wo eine Geschichte zur nächsten weiterleitet und
damit immer tiefer in das emergente Denken hinabsteigt. Anders
gesagt: Wer einmal damit anfängt, den Autoren der Geschichten in
ihren Schlussfolgerungen zuzustimmen, wird sich auch später in den
weiteren Teilen nicht mehr davon distanzieren können.
Yaconelli beginnt seine
Einführung mit seinen Erlebnissen zum Thema Gemeinde. Er erzählt
davon, dass seine Gemeinde, die er als Pastor geleitet hat, von
anderen Menschen in Frage gestellt wurde, ob sie denn wirklich eine
Gemeinde sei. Das ging so weit, dass er sogar begann, seine Berufung
in Frage zu stellen. Und dann stellt er zwei gegensätzliche Modelle
von „Gemeinde“ einander gegenüber:
„Real“
churches owned buildings, had paid properly educated staff, and,
primarily did stuff. Church was about doing. This predominant
activist model of church meant that the Church was all about
attending, working, teaching, visiting, participating, performing,
measuring, evangelizing, watching, committing, reading, memorizing,
volunteering, joining. (S. 15)
Yaconelli wirft dieser
„real“ church vor, sie würde hauptsächlich aus den drei Werten
Leistung, Heuchelei und Tun bestehen. Diesem setzt er ein Erlebnis
bei der L'Arche (die Arche) Vereinigung. Dies sind Kommunitäten, in
denen geistig behinderte und gesunde Menschen zusammenleben.
Yaconelli war in einer solchen Kommunität und lernte dort fröhliches
Herumtoben in der Gemeinschaft mit Gott kennen. Dies hat ihn und
durch ihn auch seine Gemeinde verändert. Seither würde es in seiner
Gemeinde fast nur noch um Geschichten gehen.
Hier hat Yaconelli eine
sehr schwierige, aber für Emerging Church-Kreise sehr typische Art
der Argumentation übernommen. Er stellt einen Gegensatz von zweiu
Dingen her, auf die es überhaupt nicht ankommt. Er schreibt ja im
oben zitierten Abschnitt, worauf es bei der einen Definition von
„church“ gehe: Um Gebäude besitzen, gut ausgebildete bezahlte
Mitarbeiter und um das Füllen von Programm. Hier zeigt sich, dass
das Erzählen von Geschichten schon an seine Grenzen stößt. Er ist
nicht willens, sich der wichtigen Frage zu stellen, was Gemeinde denn
nun wirklich ist. Er macht nur seinem Ärger über das Luft, was ihm
an den traditionellen Gemeinden nicht passt und wirft dabei alle in
einen Topf: Denen geht es nur um das Gebäude, die Leitung und die
Programme! Leider erwähnt Yaconelli mit keinem Wort, was die Bibel,
was Jesus zum Thema Gemeinde sagte. Er geht mit keinem Wort auf die
Unterscheidung zwischen der „weltweiten“ und der „örtlichen“
oder der „unsichtbaren“ und der „sichtbaren“ Gemeinde ein.
Was er sagt, ist lediglich heiße Luft gegen eine vage umrissene
Institution, die es so nicht gibt. Wo ich ihm allerdings zustimmen
muss, ist, dass das Überladen mit Programmen und das Tun, Tun, Tun,
die ständige Leistung und das Vergleichen mit anderen Gemeinden auch
hier in Westeuropa eine große Gefahr darstellt.
Yaconelli beschreibt die
neuen Gottesdienste seit seiner Erfahrung von L'Arche:
We
don't talk about sin very often. In the 12 years since L'Arche, I may
have talked about it twice. Do I believe in sin? Of course. Do I
believe people are accountable to God for their sin? Absolutely. Do I
believe it would be better if people didn't sin? Certainly. But the
people who come to Grace Community Church know all about sin. Many of
them have lived in it all their lives. It has destroyed their
families, their incomes, their futures. They come to church to find
out what to do about it. How do they escape the hold sin has on their
lives? How do they find a way out of the addiction to sin? How can
they find forgiveness and healing – and grace? We don't have to
talk about sin. What we're all longing for is good news. (S. 18)
Sünde wird somit nur noch in der horizontalen Ebene gesucht. Er
betrachtet als Sünde die Dinge, die Menschen entweder gegen sich
selbst oder gegen ihr Umfeld tun. Aber dass Sünde in allererster
Linie eine Rebellion und Auflehnung gegen Gott ist, geht bei
Yaconelli vollkommen unter. Denn das wissen die Menschen, die zu
seiner Gemeinde kommen, nicht einfach aus ihrem Leben. Der Auftrag
Jesu lautete auch nicht: Seid einfach die Gemeinde, sondern: So
geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf
den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und
lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich
bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit! Amen.
(Matthäus 28, 19 - 20)
Der Rest des ersten
Kapitels besteht aus einer Begründung, warum das Buch aus
Geschichten besteht:
Stories
are always unfinished, partial, under construction, never over.
What's great about stories is their incompleteness because that
reminds us we're still learning, recognizing, and understanding –
which reminds us how little we know. Stories are agents of humility
because they make clear God isn't done yet. (S. 20)
Dies ist zugleich ein
Versuch, seine Aussagen der Prüfung zu entziehen. Man kann damit im
Nachhinein immer sagen: Das war mal, Gott war noch nicht fertig. Gott
wird bis zum Ende unseres Lebens nicht fertig sein mit uns, das ist
wahr. Dennoch ist Gott groß genug, um uns objektive, klare, ewig
gültige Wahrheit klar verständlich zu machen. Auch wenn die
Erkenntnis mit den Jahren an Tiefe noch zunimmt, bleibt auch das
zuerst Erkannte objektive, klare, ewig gültige Wahrheit.
Insgesamt gesehen hat mir
Yaconellis Vorwort manches zum Denken gegeben. Doch immer wieder
hätte ich mir gewünscht, er hätte seine Hausaufgaben besser
gemacht und sich auch in Bezug auf die Theologiegeschichte besser
vorbereitet, statt oft nur mit Verallgemeinerungen und in Realität
nicht existierenden Widersprüchen zu jonglieren.
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