Jaeger,
Lars, Supermacht Wissenschaft – Unsere Zukunft zwischen Himmel und
Hölle, Gütersloher Verlagshaus, 1. Aufl. 2017, 413 S. Verlagslink
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Vielen
Dank an das Gütersloher Verlagshaus für das Rezensionsexemplar.
Dr.
Lars Jaeger ist ein Autor, der sich viele Fachgebiete zu eigen
gemacht hat. Nach dem Studium der Physik, Mathematik und Philosophie
arbeitete er zunächst am Max-Planck-Institut für Physik komplexer
Systeme in Dresden, später kam er nach Zürich, wo er auf dem Gebiet
der Finanzbranche forschte, und vor einigen Jahren gründete er ein
Unternehmen für Investment- und Finanzdienstleistungen. Darüber
hinaus setzt er sich für mehr Transparenz in vielen Bereichen ein,
und ist auf der Suche nach Möglichkeiten der spirituellen
Dimensionen, welche das Leben und insbesondere die Wissenschaft
bieten.
Ich
war sehr gespannt auf das Buch, da es doch einige Bereiche meiner
Interessen abdeckt – und im großen Ganzen hat das Buch noch mehr
gehalten als ich erwartet hatte. Doch zunächst mal eins nach dem
anderen. Das Buch gliedert sich in drei Teile, und diese Aufteilung
ist sehr gut gelungen. Im ersten Teil hat man so eine Art Rundgang
durch die neuesten Forschungsergebnisse verschiedenster
wissenschaftlicher Disziplinen. Jaeger beschreibt das wie eine Art
„Safari“ (S. 16). Es ist so, als ob man neue Tierarten anschaut
und sich darüber freut. Im zweiten Teil geht es darum, was diese
Tierarten mit uns machen – dass wir im Prinzip schon kurz vor dem
Gefressenwerden sind. Und der dritte Teil ist eine Strategie, wie man
dem entkommen bzw. diese Tiere zähmen kann.
Mit
einem Rundumschlag von Quantentechnologie über Nanotechnologie,
Gentechnik und Künstliche Intelligenz bis hin zu neuen
Bewusstseinstechnologien steigt Jaeger gleich tief in die wichtigen
Themen unserer Zeit ein. Manches war mir schon bekannt, in anderen
Fällen wusste ich noch nichts über die allerneusten Entwicklungen
der Forschung. So konnte ich auch einiges Neues lernen. Einige Zeit
hatte ich ja die Entwicklungen um CRISPR verfolgt, doch die neusten
Entwicklungen darin waren mir noch nicht bekannt. Schließlich kann
sich nicht jeder um jedes Thema kümmern. Überhaupt ist das ein sehr
wertvoller Aspekt des Buches von Jaeger: Er versucht, diese Inhalte
der neueren Forschung leicht verständlich rüberzubringen, damit
sich jeder informieren und mitreden kann: „Nur wer informiert
ist, kann sich eine differenzierte Meinung bilden und zu einer
sinnvollen Gesetzgebung beitragen, die einerseits die Wohltaten der
Wissenschaft der Allgemeinheit zugänglich macht und andererseits die
Gesellschaft vor unerwünschten Auswüchsen des Forscherdrangs
schützt.“ (S. 55f.)
Das
erste Kapitel schließt mit dem Gedanken, der aus Goethes Ballade vom
Zauberlehrling stammt: Dieser ließ mit einer Zauberspruch einen
Besen Wasser holen, um baden zu können, doch plötzlich ist das Haus
unter Wasser gesetzt und unser Zauberlehrling hat den Spruch
vergessen, um dem ganzen Spuk ein Ende zu setzen. Nur sein Meister
kann ihn noch retten, indem er den „Knecht“ wieder in einen
reglosen Besen verwandelt. Die Frage, die sich mir hier nun stellt,
geht noch etwas weiter: In Goethes Ballade muss der Besen komplett
gestoppt werden. Der Zaubermeister gibt dem Besen keine Gesetzgebung
und lässt ihn eingeschränkt weiter Wasser holen, unter der
Bedingung, dass... Ich werde diese Frage später, wenn es um den
dritten Teil geht, noch ausführlicher besprechen. Auf jeden Fall ist
mir diese Stelle gleich ins Auge gesprungen, als ich das Buch zum
ersten Mal las. Auf Seite 56 schreibt Jaeger, dass es bislang der
Mensch gewesen sei, der die Natur den Veränderungen unterzogen habe,
und sich dies nun am Umkehren sei. Auch hier setze ich ein
Fragezeichen. Ist es nicht so, dass jede neue Entdeckung, jede
Entwicklung an sich schon den Menschen tiefgreifend verändert hat?
Im
Verlauf des zweiten Kapitels wird aus den zahlreichen Technologien,
die dabei sind, unser Leben zu revolutionieren, ein unberechenbares
Monstrum. Zunächst interessante Technologien wie etwa eine
Gehirn-Computer-Schnittstelle, über die man mit Gedanken einfache
Befehle weitergeben kann, entpuppen sich als Risiko für das
Menschsein an sich – denn wer Zugang zum Gehirn eines Menschen
bekommt, kann diesen beliebig nach eigenem Willen manipulieren.
Jaeger fragt: „Werden Taxifahrer bald den Stadtplan von London
auf einem Neurochip in ihrem Gehirn abgespeichert haben oder Soldaten
auf dem Schlachtfeld mit EEG-Kapen herumlaufen?“ (S. 137)
Eine
weitere wichtige Frage stellt sich zum Menschenbild: „Unser
Welt- und Menschenbild wird sich auch mit den zukünftigen
Möglichkeiten der Manipulation unseres Geistes stärker verändern,
als alle bekannten philosophischen Lehren, psychologischen Theorien
oder spirituellen Praktiken es bisher getan haben.“ (S. 139)
Die Frage ist: Wer ist der Mensch überhaupt, wenn man mit
technologischen Möglichkeiten seine Entscheidungen manipulieren und
jedes beliebige Gefühl per Knopfdruck herstellen kann? Wird der
Mensch dann noch ein mit freiem Willen und Verantwortung
ausgestattetes Wesen sein?
Im
zweiten Teil werden weitere Nachteile dieser Technologien besprochen.
Der Mensch wird mittels Algorithmen und Datensammlungen beständig
vermessen und einsortiert. Big Data ist ein großes Thema unserer
Zeit. Wer hat alles Zugriff auf unsere Daten? Ebenso wichtig: Was
kann der Besitz unserer Daten mit uns machen? Verschiedene Versuche
im Internet haben den Einfluss dieser Daten auf unser Leben
aufgezeigt und doch sind wir bereit, die riesenhaften Datenkraken zu
unserem Vergnügen beständig weiter zu füttern. Nach verschiedenen
weiteren Fragestellungen beschäftigt sich Jaeger im dritten Teil mit
der Frage: Wie weiter. Bevor ich diesen dritten Teil unter die Lupe
nehmen und kritisieren werde, muss ich dem Autor für die zwei ersten
Teile ein großes Lob aussprechen. Es gelingt ihm außerordentlich
gut, dem Leser die Entwicklungen deutlich und in einer leicht
verständlichen Sprache vor Augen zu malen. Dafür bin ich sehr
dankbar. Es ist somit ein wirklich wertvolles Buch, das sich zu lesen
lohnt, selbst wenn man – wie ich – am Ende zu anderen
Schlussfolgerungen kommt.
Drei
Kritikpunkte möchte ich an das Buch anlegen, und diese betreffen
hauptsächlich den dritten Teil, und den bereits angesprochenen
Schluss des ersten Kapitels.
1.
You can't have your cake and eat it.
In
der Schweiz gibt es den Spruch „Chasch ned de Batze und 's Weggli
ha“ (Du kannst nicht das Geld und das Brötchen haben). So ähnlich
versucht Jaeger jedoch mit der neuen Technologie umzugehen. Er möchte
den Segen derselben genießen können, aber im selben Moment auf
deren Nachteile verzichten können. Deshalb wird die Ballade von
Goethe am Ende des ersten Kapitels auch nur teilweise
zusammengefasst. Das Wichtigste geht dabei unter: Der „Knecht“
wird wieder zum Besen. Die Frage, die ich an dieser Stelle jedem
Leser stellen möchte, ist die: Wie weit ist es überhaupt möglich,
in der Technologie das Rad zurückzudrehen und den Besen wieder in
die Ecke zu stellen? Ich werde meine Antwort am Ende des dritten
Kritikpunktes in Kurzform präsentieren.
2.
Wissenschaft baut auf dem jüdisch-christlichen Weltbild auf.
Jaeger
schreibt auf S. 329: „Der Einfluss von Religionen und
traditioneller spiritueller Denktraditionen auf unseren modernen
Lebensbedingungen ist dagegen eher beschränkt. Weit weniger als
Wissenschaftler und Unternehmer waren an der Erschaffung unseres
heutigen materiellen Komforts Theologen und Philosophen beteiligt.“
Diese Aussage ist nicht ganz leicht verständlich, aber sie ist die
Grundlage, um in einem späteren Abschnitt die Kirchen als nicht
hilfreich in diesen Fragen zu beurteilen. Leider ist da etwas dran.
Allerdings sollte Herr Jaeger nicht vergessen, dass alle
Wissenschaft, sofern sie von einer beobachtbaren und adäquat
beschreibbaren, erforschbaren und kultivierbaren (beeinfluss- und
veränderbaren) Realität ausgeht, auf der Grundlage des
jüdisch-christlichen Weltbildes aufbaut. Darüber gäbe es natürlich
eine Menge mehr zu sagen, was allerdings den Rahmen einer Rezension
sprengen würde.
3.
Ein quasi-messianisches Staatsverständnis hilft nicht weiter.
Abschließen
möchte ich mit meiner größten Kritik am Buch: Herr Jaeger sieht
die Erlösung durch in seinem Staatsverständnis: „Es gibt noch
eine weitere bedeutende gesellschaftliche Kraft, die dafür sorgen
könnte, dass der technologische Fortschritt uns dient, und nicht wir
ihm: der Staat.“ (S. 351) Doch was würde in einem Staat
geschehen, der über Algorithmen verfügt, die alles zentralistisch
regieren? Was wäre da überhaupt mit Menschen, die nicht in diese
„schöne neue Welt“ hinein wollen? Ich habe jetzt schon Menschen
getroffen, die mit der Komplexität unseres jetzigen Lebens in der
westlichen Welt nicht klarkommen und deshalb lieber freiwillig auf
der Straße leben. Werden in einer solchen technologisierten Zeit
Abweichler zum Abschuss freigegeben, bzw. - weitaus brutaler – dem
langsamen Hungertod preisgegeben? Die letzten Wahlen in den USA
zeigen, wohin eine Demokratie steuern kann. Und das sage ich als
überzeugter Vertreter der Demokratie. Allerdings braucht ein jeder
Staat klare Grenzen, die er nicht überschreiten darf. Je
aufgeblähter ein Staat wird, je mehr Aufgaben er bekommt, desto
weniger kann der einzelne Bürger in diesem Staat verantwortlich
handeln – und desto mehr wächst die Gefahr des staatlichen
Machtmissbrauchs. Viele Despoten des 20. Jahrhunderts wurden
demokratisch gewählt (davor kann kein System bewahren), und je
aufgeblähter ein solcher Staat ist, desto mehr Möglichkeiten des
Missbrauchs hatte dieser.
Meine
Antwort wäre: Kleiner statt größer denken. Wir brauchen keinen
„Big Talk“ wie im Buch beschrieben, sondern viele, unzählig
viele „Mini Talks“ von Einzelnen, die sich über ihre Zukunft
Gedanken machen. Wenn wir die Geister, die wir riefen, wieder in die
Ecke stellen wollen, brauchen wir eine Rückkehr zur Familie, zum
Freundeskreis, zum Denken im Kleinen, zum verantwortlichen Handeln
des Einzelnen, denn nur so wird es auch in einem Katastrophenfall
möglich sein, weiter zu existieren. Statt auf digitale Währungen
umzusteigen wäre es wichtiger, Menschen zu haben, denen man
vertraut, und die einander im Notfall beistehen.
Und
genau hier sehe ich das zukünftige Potenzial der Kirchen und
Gemeinden. Sie haben den göttlichen Auftrag, Rettungsboote und
Heimatorte für verlorene Menschen in dieser Welt zu sein. Sie sind
Orte, wo der Einzelne sich selbst kennenlernen kann und in die
Gemeinschaft mit Gott kommt, der letztendlich bestimmt, wer und was
der Mensch ist und was seine Persönlichkeit ausmacht – auch im
Wandel der Technologie und des säkularen Menschenbildes.
Ich
gebe dem Buch vier von fünf Sternen.
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