Nachdem
ich vor ein paar Tagen Gründe gesucht habe, warum
Menschen zu Bibelkritikern werden, möchte ich heute fragen, was
eigentlich die historisch-kritische Bibelauslegung ausmacht, ob man
sie definieren und von anderen Methoden abgrenzen kann, die nicht zur
historisch-kritischen Methode gehören. In meiner Auseinandersetzung
mit der Geschichte
der Biblischen Theologie habe ich einzelne Abstecher in die
Geschichte der historisch-kritischen Methode gemacht, da diese beiden
Bereiche in manchen Fällen sehr nahe beisammen liegen. Im oben
verlinkten PDF kann deshalb dazu noch mehr gelesen werden. Im
Weiteren zitiere ich zum Teil aus diesem Dokument und kommentiere
diese Zitate.
Die
Geburt der historisch-kritischen Methode
Die
historisch-kritische Methode ist innerhalb der Kirchengeschichte sehr
jung, während die Auslegung der Bibel schon so alt ist wie die Bibel
selbst. Innerhalb der Bibel finden sich viele Auslegungspredigten und
Hinweise auf solche, die gehalten wurden. Die Geburt der
historisch-kritischen Methode ereignete sich vor noch nicht einmal
250 Jahren, nämlich 1771, als der Halle'sche Pietist Johann Salomo
Semler seine Schrift „Abhandlung von freier Untersuchung des
Canons“ veröffentlichte.
Dazu
muss ich zwei Bemerkungen anfügen. Erstens macht sich jeder, der
seither die historisch-kritischen Methoden als alternativlos
bezeichnet, des Vorwurfs schuldig, das Christentum hätte über 1700
Jahre lang die Bibel nicht richtig verstehen können und habe deshalb
einen minderwertigeren Glauben gehabt.
Zweitens
müssen wir deshalb klar festhalten, dass alle Methoden der
Bibelauslegung, die bereits vor 1771 vorhanden waren, keinesfalls als
Teile der historisch-kritischen Methode bezeichnet werden dürfen.
Selbstverständlich darf sich jeder auch dieser früheren
Vorgehensweisen bedienen, allerdings ist es unzulässig, sie als
Methoden der HKM zu vereinnahmen. Leider wird dies allzu gerne getan,
damit man zu besseren Argumenten für die HKM kommt, indem man zuerst
legitime, auch bei Bibeltreuen beliebte Methoden vorstellt, sie dann
zum Arsenal der HKM zählt, und im Anschluss argumentiert, wer jene
Methoden gut finde, müsse für den Rest auch offen sein. Diese
Vorgehensweise ist enorm unehrlich, besonders auch deshalb, weil
jeder, der sich noch nicht so ausführlich mit der
Theologiegeschichte auseinandergesetzt hat, solcher Propaganda leicht
auf den Leim geht.
Bibelauslegung
vor 1771
Vor
1771 wurde die Bibel schon viele Jahrhunderte lang ausgelegt. In der
Zeit der Urgemeinde und der Kirchenväter bis weit ins späte
Mittelalter war die Rede vom vierfachen Schriftsinn:
1.
Wörtlich-geschichtliches Verständnis („Was hat das für den
ersten Leser bedeutet?“)
2.
Allegorisch-typologisches Verständnis („Auf was kann man es sonst
noch übertragen?“)
3.
Moralisch-ethisches Verständnis („Wie kann ich das leben?“)
4.
Anagogisch-eschatologisches Verständnis („Was sagt das über die
Ewigkeit aus?“)
Diese
Auslegungspraktiken haben zum Teil durchaus ganz interessante Blüten
getrieben. In der Zeit der Reformation kam man zum Schluss, dass vor
allem der erste Punkt und darunter untergeordnet auch der dritte
wichtig ist. Man hat die Bibel wörtlich verstanden, sah ihre Inhalte
als geschichtlich so wahr und tatsächlich geschehen an, und begnügte
sich mit einem einfachen, kindlichen Vertrauen in Gott und Sein Wort.
1516
erschien das griechische Neue Testament erstmals gedruckt, und zwar
von Erasmus von Rotterdam in Basel ediert. Er hat das mit den damals
vorhandenen Manuskripten textkritisch bearbeitet. Insofern ist es
falsch, die Textkritik, also den Vergleich mehrerer Handschriften für
die möglichst genaue Erarbeitung des Textes, als Teil der
historisch-kritischen Methode zu bezeichnen. Leider waren Erasmus
erst wenige Handschriften zugänglich, da noch nicht so viele
gefunden worden waren.
Die
Auslegung der Reformation und der Zeit danach kann man als
grammatisch-historische Auslegung bezeichnen. Es wurde auf die
genauen Worte im Urtext, die Formen der Grammatik, die Geschichte und
Bräuche der damaligen Zeit, soweit bekannt, geachtet. Auch die
verschiedenen Gattungen wurden genau beachtet, ob es sich um einen
Brief, einen Psalm, ein Geschichtswerk, eine Prophetie, etc.
handelte, wurde ernst genommen. All diese Vorgehensweisen können
somit nicht original zu den historisch-kritischen Methoden gezählt
werden. Wer etwa die Kommentare und Predigten von Johannes Calvin
liest, wird eine meisterhafte Darbietung dieser Methoden vorfinden,
auch wenn man natürlich nicht in allen Fragen mit ihm einverstanden
sein muss.
Ernst
Troeltsch und die Definition der HKM
Ernst
Troeltsch untersuchte die bisherige historisch-kritische Methode und
suchte nach einer Definition und Methodik, die der Theologie helfen
sollte, auf diese Art und Weise zu arbeiten. Er stellte auf diese
Weise ein dreifaches Werkzeug her, das er in seinem Buch Über
historische und dogmatische Methode in der Theologie ausführte:
a.
Kritik:
Alles
muss zunächst einmal angezweifelt werden. Nichts darf per se als
wahr betrachtet werden, wenn seine Wahrheit nicht zuerst nachgewiesen
werden konnte. Die menschliche Vernunft (und damit der
Subjektivismus) wird über jede Aussage der Bibel gestellt und muss
sie in allem radikal hinterfragen.
b.
Analogie:
Diese
Kritik geschieht zunächst durch das Prinzip der Analogie. Das
bedeutet: Man sucht nach ähnlichen Berichten und bewertet anhand
derer die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Ganze tatsächlich so
abgespielt haben könne. Hierdurch wird die Tatsache von Wundern
komplett in den Bereich der Mythen verschoben. Auch Jungfrauengeburt
und leibliche Auferstehung Jesu streitet man mit dieser
Vorgehensweise ab.
c.
Korrelation:
Die
zweite Methode der Kritik ist die Korrelation. Es darf keine Zufälle
geben, deshalb beruht alles auf Wechselwirkungen und die müssen
gefunden werden. Es wird also gefragt, woher es komme, dass die
biblischen Autoren genau jenes geschrieben haben, also: woher könnten
sie ihre religiösen Vorstellungen haben? Von wem sind die „geklaut“?
Auf welche Ursache sind die biblischen Texte zurückzuführen? Diese
historisch-kritischen Werkzeuge haben seit Troeltsch den Verlauf der
evangelischen Theologiegeschichte zutiefst geprägt.
Schlussbemerkungen
Es
ist eine traurige Tatsache, dass die Bibelkritik in der englischen
Sprache als „German higher criticism“, also „deutsche höhere
Kritik“ in bewusster Abgrenzung zur Textkritik bezeichnet wird. Wir
haben feststellen können, dass es schon lange vor den Erfindungen
der historisch-kritischen Methoden sehr viele zuverlässige und
wertvolle Hilfsmittel und Methoden gab, mit welchen die Bibel
schriftgetreu und damit jesusgetreu ausgelegt werden konnte. In einem
späteren Beitrag werde ich mich mit verschiedenen der
historisch-kritischen Methoden auseinandersetzen. Jeder, der die
bibelkritischen Methoden gut findet, darf mir gerne eine Liste von
positiven Erkenntnissen zusenden, die nur dank der (echten)
historisch-kritischen Methoden gewonnen werden konnten. Dabei zählen
alle oben genannten (und weiteren) Methoden nicht, die schon vor J.
S. Semler bekannt waren. Ich bin gespannt, ob sich irgendwer traut,
diese Herausforderung anzunehmen. Bitte keine Buchvorschläge,
sondern nur in eigene Worte gefasste Erkenntnisse.
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