Ratut,
Beile, Welt unter Sechs, Ruhland Verlag Bad Soden, 2015. Link
im Verlag / Amazon
Vielen
Dank an den Ruhland-Verlag
und die Agentur Literaturtest
für die Zusendung des Rezensionsexemplars. Mit großem Interesse
habe ich das Buch „Welt unter Sechs“ von Beile Ratut gelesen.
Die
Autorin Beile Ratut ist Finnin, hat lange Zeit in Frankfurt am Main
gelebt und schreibt auf deutsch. Es ist ihr drittes Buch, die zwei
anderen habe ich allerdings nicht gelesen. Ich fand es spannend, dass
sich eine Frau auf die Suche nach der Antwort auf das Problem der
fehlenden Männlichkeit macht. Sie verarbeitet das Thema in drei
kurzen Romanen, die jeweils ungefähr 60 Buchseiten umfassen.
Bücher
lesen ist etwas, was jeder Mensch aufgrund seiner Prägung
unterschiedlich macht. Ich werde deshalb kurz meinen Hintergrund und
meine Vorgehensweise erläutern. Wer das langweilig findet, darf
diesen Abschnitt gern überspringen. Ich bin ein freikirchlich
geprägter und theologisch geschulter Mensch, der sehr gerne liest.
Leider komme ich zu selten zum Lesen von Romanen, habe für diese
jedoch eine mir eigene Vorgehensweise entwickelt. Ich lese das Buch
jeweils dreimal hintereinander, jedes Mal mit einer anderen Frage im
Hinterkopf. Dazu mache ich mir Notizen und
Unterstreichungen am Buchrand. Beim ersten Durchgang ist meine Frage:
„Wie wirkt das Buch auf mich? Welche Geschichte erzählt es? Was
will das Buch in mir erreichen?“ Beim zweiten Durchgang frage ich
mich: „Wie ist die Weltanschauung des Autors oder der Autorin?“
Dabei geht es um die Fragen nach Herkunft der Welt (Schöpfung), Herkunft des
Bösen (Sündenfall) und wie das Gute wiederhergestellt werden
kann (Erlösung). Beim dritten Durchgang frage ich mich, welche
Fragen oder Probleme die Geschichte anspricht und wie diese
beantwortet oder gelöst werden.
Die
drei Geschichten
Die
Hauptperson der ersten Geschichte ist ein Pfarrer, 55 Jahre alt,
verheiratet, allerdings kinderlos geblieben. Er war ein guter
Kommunikator, einer, der die richtigen Worte zu treffen wusste um die
Menschen zu trösten; und er liebte seinen Beruf, weil er sich auf
diese Weise gebraucht fühlte. Seine Frau hatte sich in den Jahren
der Ehe immer weiter von ihm zurückgezogen, sie war oft im Garten.
Plötzlich entdeckte der Pfarrer, dass seine Gesichtshaut mit einem
riesigen Schandmal „verziert“ war. Er konnte sich nicht mehr
sehen lassen, versteckte sich, und hatte dadurch Zeit, sich Gedanken
zu machen. Er erkannte nun, dass er nicht wirklich glaubte, was er
predigte, und dass auch seine Frau sich nicht einfach so von ihm
zurückgezogen hatte, sondern deshalb, weil er sie nie nahe genug an
sie herangelassen hatte. Am Ende fanden sie einander, fanden Worte
für einander und dann wurde seine Frau auch endlich schwanger.
In
der zweiten Geschichte geht es um Heinrich, einen Wissenschaftler,
der sich durch seine Forschung einen Namen gemacht hatte. Auch er war
verheiratet; doch er hatte einen Sohn. Am Anfang der Geschichte
erfährt man, dass der Sohn weggelaufen war. Der Sohn war sehr
anhänglich, zart, mitfühlend, lebte ganz in der Welt der Mutter.
Heinrich sah das mit Sorge, er wusste nicht, wie Sebastian von der
Welt der Mutter in die Welt des Vaters hinüberwechseln sollte.
Heinrich hatte das auch ohne Vater lernen müssen; bei ihm war es ein
Ritual, das eine Art Vergewaltigung war, die durch andere Schüler
des Internats ausgeübt worden war. Mantraartig wiederholt er in der
Geschichte, er habe seinem Sohn nichts getan, ihm nur die Hand auf
den Kopf gelegt und ihm das „Wissen der Mannbarkeit“ (u. a. S.
65) geschenkt. Schreckerstarrt erfährt der Leser zum Schluss, worin
das bestand. Diese Geschichte endet mit dem Versprechen Heinrichs,
seinen Sohn zu suchen und nicht aufzuhören, bis er ihn gefunden
habe.
In
der dritten Geschichte erzählt ein alter Mann, ein Bettler, seine Geschichte. Bei
ihm starb der ältere Bruder als er noch ein Kind war. Er selbst
führte daraufhin ein sehr unstetes, von vielen Liebschaften und
einer Abtreibung geprägtes Leben. Er heiratete sehr spät und hatte
sich nach einigen Jahren von seiner Frau entfremdet. Einer seiner
Kollegen vergewaltigte die Frau dieses Mannes und er glaubte ihr
nicht einmal. Als sie den Kollegen dazu bringen wollte, ihrem Mann
seine Tat zu gestehen, rastete der Kollege aus und vergewaltigte sie
noch einmal, bevor er sie im Wald bewusstlos schlug, mit Benzin
übergoß und verbrannte. Der alte Mann bekam dann in einem Kloster
von einem jungen Priester eine Antwort auf die Frage, was es bedeute,
an Gott zu glauben. So fand er schlussendlich als alter Mann echten
Frieden.
Meine
persönlichen Gedanken dazu
Beile
Ratut spricht tatsächlich viele wichtige
Themen an, die das Mannsein oder Mannwerden ausmachen. Verantwortung
tragen, Zeit haben, Ehrlichkeit, sich ganz öffnen, sich verwundbar
machen, Sexualität und die Suche danach, der Weg vom Kind zum Mann,
und so weiter.
Heinrich,
der Vater in der zweiten Geschichte, machte sich Gedanken dazu: „Was
sollte aus dem Kind werden? Wer würde ihm helfen, aus der Welt
seiner Mutter in die Welt des Mannes zu treten? Wie sollte aus ihm
ein Mann werden, der in dieser Wirklichkeit nicht unterging? War es
nicht Verrat an seinem eigenen Blut, ihn damit allein zu lassen?“
(S. 77f)
Auch
die Unterhaltung – eine der seltenen Passagen in der direkten Rede
– in der ersten Geschichte ist wertvoll:
„Dann
sagte sie vorsichtig: „Ich bin nicht dein Feind – ich bin deine
Frau.“
„Und
ich bin dein Mann“, sagte er, wie um sie daran zu erinnern, welche
Ehre ihm gebührte. Doch ihm gebührte keine Ehre.
„Ich
will dich sehen wie du wirklich bist“, fuhr sie fort. „Aber ich
sehe nur einen Mann, der mir ausweicht. Warum machst du das? Kannst
du mir denn nicht in die Augen schauen und mein Ehemann sein?““
(S. 49)
So
habe ich zahlreiche Absätze im Buch als echt wertvolle Hinweise auf
solch wichtige Themen angestrichen. Zugleich stelle ich aber auch
kritische (An-)Fragen an das Buch:
1)
Der Umgang mit der Sprache. Die Sprache wird häufig gebraucht, um
Emotionen aufzubauen. Ratut versucht, Sprache zu verstärken, indem
sie Sätze inhaltlich und zuweilen auch äußerlich sinnlos und
falsch aufbaut. Das erinnerte mich an die – natürlich falsche –
Sichtweise von Friedrich Nietzsche, welcher schrieb:
„Überall
ist hier die Sprache erkrankt, und auf der ganzen menschlichen
Entwickelung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit. Indem
die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr
Erreichbaren steigen musste, um, möglichst ferne von der starken
Gefühlsregung, der sie ursprünglich in aller Schlichtheit zu
entsprechen vermochte, das dem Gefühl Entgegengesetzte, das Reich
des Gedankens zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses übermäßige
Sich-Ausrecken in dem kurzen Zeitraume der neueren Civilisation
erschöpft worden: so dass sie nun gerade Das nicht mehr zu leisten
vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten
Lebensnöthe die Leidenden zu verständigen.“ (Friedrich
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen IV, Kp. 5)
Wie
Nietzsche scheint also auch Ratut der Meinung zu sein, dass Sprache
weniger Sinn, Inhalt und Information, sondern vielmehr Emotion
weitergeben soll. Das macht das Buch jedoch auch deutlich schwieriger
lesbar. Deshalb frage ich mich, wen sie zum Zielpublikum machen
möchte. Das Buch wird deshalb kaum junge Männer ansprechen, die
sich diese Gedanken noch nicht gemacht haben. Lesebegeisterte und nachdenkliche junge
Männer, die sich diese Frage auch schon gestellt haben, werden vermutlich auch nicht so viel Neues darin finden.
2)
Gibt das Buch Antworten? Ja und nein. Ich vermute, dass Ratut sich
das Buch als eine Gesamtkomposition gedacht hat. Drei Geschichten,
die aufeinander aufbauen. Durch den Aufbau ergibt sich eine Art
Antwort – wobei die Antwort dann im Glauben an Gott zu finden ist.
Die einzelnen Geschichten geben für sich allein jedoch keine
Antworten und auch kaum Hilfestellung zu einer besseren Lösung.
3)
Wo oder wie ist Erlösung zu finden? Hier kommt meine wichtigste
Frage an das Buch. Wenn Ratut den Leser dazu führen möchte, durch
den Gesamtaufbau des Buches zu erkennen, dass der Glaube zum echten
Mannsein gehört (und ich würde ihr darin völlig zustimmen), dann
müsste das die letzte Geschichte noch besser herausarbeiten. Wenn
sich der (in Glaubensdingen unkundige) Leser fragt, wie er dorthin
kommt, ist er am Ende verlassen. Außerdem ergeben die Geschichten –
wenn man sie einzeln liest – ein ganz anderes Bild. In der ersten
Geschichte könnte man meinen, Malessa (die Frau des Pfarrers) sei am
Ende die Erlöserin. Die zweite Geschichte spricht vom Schöpfer der
Welt, den Heinrich um Vergebung bitten wolle. Auch hier fehlt eine
Menge. Und in der dritten Geschichte findet der Erzähler die Antwort
beim Priester im Kloster. Dort lautet sie, an Gott zu glauben,
bedeutet: „Verkriech dich in den Fels und halte dich im Staub
versteckt vor dem Schrecken des Herrn und vor der Pracht seiner
Majestät.“ (S. 180) Keine der drei Antworten, die die drei
Geschichten geben, wird den Leser zum Frieden mit Gott bringen. Eine
konkretere Antwort zu finden bleibt Sache des Lesers. Auch wenn
manchmal Teile der Bibel, etwa das Buch der Psalmen, genannt werden,
fehlt der konkrete Hinweis darauf, dass dort die Antwort zu finden
ist. Ebenso auch der Hinweis, wie diese Antwort aussieht.
Mein
Fazit
Beile
Ratut hat ein Kunstwerk geschaffen, das viele gute Dinge anspricht
und den Finger wohltuend in manch eine Wunde hält. Dennoch ist es
ein Kunstwerk, das manche Fragen offen lässt und auch nicht für
jedes Publikum geeignet ist. Man muss zunächst mit ihrem Schreibstil
klarkommen. Wie bereits angesprochen besteht das Buch aus fast keinen
Dialogen und hat wenig Handlung – das meiste spielt sich in den
Köpfen der Personen ab. Man muss damit klarkommen. Ebenso muss man
die drei Geschichten am Stück und in der vorgegebenen Reihenfolge
lesen, damit man hinter die Geschichten sieht – obwohl jede von
völlig anderen Personen und Umständen berichtet.
Das ist schon richtig: Die Romane von Beile sind Kunstwerke und absolut nicht für die breite Masse geschrieben. Und gerade das, was ich in den Köpfen der Menschen abspielt, das zu beschreiben ist ihre Stärke.
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