Sabine
Bode, Die vergessene Generation: Kriegskinder brechen ihr Schweigen,
Piper Verlag München, 6. Aufl. 2012 Link zu Amazon
[Anmerkung:
Mit „Kriegskinder“ bezeichnet die Autorin Kinder, die während
des 2. Weltkriegs geboren wurden, genau genommen die Jahrgänge 1930
– 1945]
„Jahrzehntelang
hatten die Kriegskinder ihre frühen Traumatisierungen verdrängt
oder auf Abstand gehalten, doch nun war die Zeit reif, Worte für
Erlebnisse zu finden, die bis dahin unaussprechbar gewesen waren. Was
dabei sichtbar wurde: Natürlich hat die Begegnung mit Kriegsgewalt
und Heimatverlust im späteren Leben Folgen, auch wenn die
Betroffenen nicht wahrnehmen, wodurch sie untergründig gesteuert
werden.“ (S. 11)
„Alle
Teilnehmer [eines Seminars] zeigten sich erstaunt über die Tatsache,
wie wenig ihnen über ihre Familien bekannt war. Das war die erste
Gemeinsamkeit. Die zweite Gemeinsamkeit bestand darin, zu erkennen,
dass wir zwar über die Einstellungen und Funktionen unserer Eltern
in der Nazizeit recht gut Bescheid wussten, aber emotional und
faktisch kaum erfassen konnten, was der Krieg in unseren Familien
angerichtet hatte.“ (S. 27)
„Im
Alter rückt die Kindheit wieder näher. Da hat man das Bedürfnis
und endlich auch die Zeit, sich mit seinen Wurzeln und den frühesten
Eindrücken zu beschäftigen.“ (S. 32)
„Um
in Ruhe alt werden zu können, brauchen Menschen ihre komplette
Biografie, ohne leere Stellen, ohne Schatten. Das gehört zu den
Menschenrechten.“ (S. 143)
„Traumatische
Ereignisse bewirken tiefgreifende und langfristige Veränderungen in
der physiologischen Erregung, bei Gefühlen, Wahrnehmung und
Gedächtnis. Überdies werden diese normalerweise aufeinander
abgestimmten Funktionen durch ein traumatisches Erlebnis manchmal
voneinander getrennt. Der Traumatisierte empfindet zum Beispiel
intensive Gefühle, kann sich aber nicht genau an das Ereignis
erinnern; oder er erinnert sich an jedes Detail, empfindet aber
nichts dabei. Er ist vielleicht ständig gereizt und wachsam, ohne zu
wissen, warum.“ (S. 202)
„Kinder
wissen instinktiv, dass sie Bedrohungen am besten verkraften, wenn
sie in Gemeinschaft mit anderen das Geschehen nachspielen. Meistens
sind sie in der Lage, auf diese Weise ihr seelisches Gleichgewicht
wiederherzustellen.“ (S. 204)
„Der
Ausbruch der Gewalt im Balkan in den Neunzigerjahren hat gezeigt,
dass das Langzeitgedächtnis für unverarbeitete kollektive Schrecken
nachtragend und unberechenbar ist. Fünfzig, sogar hundert Jahre
können verstrichen sein, und man glaubt, die Zeit habe alle Wunden
geheilt – aber dann eskaliert irgendein Konflikt, und eine
ungeheure Zerstörungskraft bricht auf. Unverarbeitete kollektive
Traumata können sich in Ressentiments niederschlagen wie auch in
blutigen Auseinandersetzungen. Ähnlich wie bei Blindgängern und
Giftmülldeponien bestünde verantwortliches Handeln darin, die
Gefahr zu entschärfen, bevor sie zum Ausbruch kommt.“ (S.
263f)
„Menschen
gelingt es am besten, ihr Leid zu verarbeiten, wenn sie die
Unterstützung der Gemeinschaft spüren. Wer dagegen in seiner
Opferrolle verharrt, bereitet auch seine Kinder und Kindeskinder
darauf vor. Auf diese Weise werden sie anfällig für Manipulationen
und eine leichte Beute für politische Rattenfänger. Große
Opfergruppen, die ständig jammern, ob versteckt oder offen,
schwächen die Demokratie.“ (S. 264)
„In
unserer Kultur finden Gemeinschaftsrituale, in denen öffentlich
Unrecht bezeugt wird, nur im Gerichtssaal statt. Dort steht aber
nicht das Opfer im Mittelpunkt, sondern der Täter. Und da Richter
nicht die Aufgabe haben, Trost zu spenden, sondern die Wahrheit
herauszufinden, weshalb Opfer häufig wenig einfühlsam befragt
werden, besteht die Gefahr, dass Gerichtsverhandlungen einem
traumatisierten Menschen eher schaden.
Was
bleibt? Eigentlich nur die Trauerfeier. Tränen sind erlaubt. Die
Gemeinschaft tröstet. Vorausgesetzt, es handelt sich um ein
stimmiges und nicht um ein leeres Ritual.“ (S. 269f)
„Was
geschieht, wenn das Kind täglich katastrophalen Kriegsereignissen
ausgesetzt ist, wenn es miterlebt, dass andere, womöglich ihm
nahestehende Menschen getötet und verstümmelt werden, dass
Erwachsene, die Schutz bieten sollten, verschwinden, selbst
dekompensieren und dadurch psychisch verschwinden? Je nach Alter wird
das Kind mit Rückzug, Depression, Ess- und Schlafschwierigkeiten,
übertriebenem Anklammern, Einnässen und Einkoten, um nur einige
Symptome zu nennen, reagieren.
Es
könnte auch geschehen, dass dieses Kind während der traumatischen
Erfahrung 'abschaltet', sich so verhält, als sei das alles nicht
wahr, als geschehe es nicht wirklich, und dieser Zustand des
Ausblendens der Wirklichkeit würde sich verfestigen, sodass auch der
spätere Erwachsene Schwierigkeiten hätte, das Hier und Jetzt
angemessen wahrzunehmen und einzuordnen.
Dieses
Ausblenden der Gegebenheiten und einer angemessenen
Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, dürfte ein
kollektives Problem des deutschen Volkes gewesen sein.“ (S.
301)
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