Johannes Calvin über die rechte Selbsterkenntnis
„Der Menschengeist hat nichts lieber, als wenn man ihm Schmeicheleien vormacht; und wenn er hört, dass seine Fähigkeiten irgendwo hoch gerühmt werden, so neigt er sich gleich mit allzu großer Leichtgläubigkeit auf jene Seite! Deshalb ist es auch nicht zu verwundern, dass in diesem Stück der größte Teil der Menschheit so verderbenbringend sich verirrt hat. Denn allen Sterblichen ist eine mehr als blinde Selbstliebe eingeboren, und deshalb reden sie sich bereitwilligst ein, sie trügen nichts in sich, das etwa mit Recht zu verwerfen wäre! Und so findet ohne fremden Schutz dieser eitle Wahn immer wieder Glauben, der Mensch sei sich selbst völlig genug, um gut und glücklich zu leben.
Gewiss: Einige wollen bescheidener urteilen und Gott einen Anteil zugestehen, damit sie nicht den Eindruck machen, als ob sie sich alles selbst zuschreiben wollten – aber da teilen sie denn doch so, dass der stärkste Grund zum Rühmen und zum Selbstvertrauen auf ihre eigene Seite kommt! Kommt dazu dann noch solch feine Redeweise, welche den sowieso im Menschen mit Mark und Bein verwachsenen Hochmut mit ihren Lockungen kitzelt, so gibt es nichts, was ihm größere Freude machte! Und so ist auch jeder, der die Vorzüge der menschlichen Natur mit seinen Reden kräftig herausgestrichen hat, zu allen Zeiten mit gewaltigem Beifall aufgenommen worden.
Aber so groß, wie auch jene Hervorhebung der menschlichen Hoheit sein mag, die den Menschen lehrt, sich mit sich selber zufrieden zu geben – sie macht ja nur durch ihre liebliche Gestalt solches Vergnügen, und ihre Vorspiegelungen erreichen nur dies, dass sie die, welche ihr zustimmen, am Ende ganz ins Verderben stürzt. Denn wozu kann es führen, wenn wir in eitlem Selbstvertrauen erwägen, planen, versuchen, ins Werk setzen, was wir für erforderlich halten, wenn uns dabei aber der rechte Verstand ganz und gar abgeht, wir bei den ersten Versuchen bereits rechter Kraft ermangeln – und dennoch selbstsicher fortschreiten, bis wir in den Untergang hineinrennen? Leiht man jenen Lehrern das Ohr, die uns bloß damit hinhalten, unser Gutes zu bedenken, so kommt man eben nicht zur Selbsterkenntnis, sondern zur Selbst-Unkenntnis!“
Johannes Calvin, Institutio 2, I, 2; übersetzt von Otto Weber.
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