Mittwoch, 26. Juli 2017

Warum ich die klassischen „alten“ Romane genieße

Gerade lese ich unter anderem den Roman „Middlemarch“ von George Eliot. Auch einzelne Romane der Geschwister Bronte („Sturmhöhe“ von Emily und „Jane Eyre“ von Charlotte Bronte) oder manche Romane von Jane Austen, oder von den russischen Schriftstellern Dostojewski und Tolstoi haben meine vergangenen Lesemonate bereichert. Heute möchte ich meine wichtigsten Gründe aufzählen, weshalb ich diese Romane ganz besonders genieße – im Vergleich zu den meisten zeitgenössischen Romanautoren.

1. weil es ganz einfach Klassiker sind.
Ein Buch wird nicht einfach ohne Grund zu einem Klassiker. Klassiker – auch wenn über deren genaue Definition gestritten wird – sind Bücher, welche über Generationen und verschiedene Kulturen hinweg Bestseller sind. Klassiker haben den Test der Zeit bestanden und sind daher zeitlos, obgleich sie natürlich einer Zeit und Kultur entstammen. Die Zeit ist ein guter Richter über Bücher: Nur das Beste vom Besten behält den Platz unter den Bestsellern, während viel Neues das weniger Gute verdrängt und seinerseits wieder dem Test der Zeit unterworfen werden.

2. weil sie wie Zeitreisen sind.
Gut, das könnte man von jedem älteren Buch sagen. Aber da ich nicht die Zeit habe, um jedes davon zu lesen, beschränke ich mich gerne vorerst mal auf die Besten der Besten aller Zeiten. Beim Lesen der Klassiker fühle ich mich in eine andere Zeit versetzt und lerne über meinen beschränkten Horizont des 21. Jahrhunderts hinauszuschauen. Ich lerne typische Charaktere, Gewohnheiten, Einschränkungen und Vorteile anderer Zeitalter kennen. Mit den Klassikern brauche ich zumindest für die Vergangenheit keine Zeitmaschine.

3. weil Helden und Tugenden statt Opfermentalität zählen.
Unsere Zeit hat Angst vor Helden mit eisernen Grundsätzen und kompromisslosem Handeln. Deshalb ist die Literatur unserer Zeit voll langweiliger Antihelden geworden, die letztendlich mit ihrer Opfermentalität punkten wollen. Nicht die Tugend zählt mehr, nicht der Charakter, sondern die Geschichte, die den Einzelnen zum Opfer macht. Da sind mir die älteren Klassiker viel sympathischer und auch für das heutige Leben viel lehrreicher und positiver.

4. weil sie unterschwellig oft voll von bissigem Sarkasmus und Satire sind.
Heutige Satire ist meist so offensichtlich und klar erkennbar; in den Klassikern muss man erst danach suchen und wird dafür dann umso mehr belohnt. Jane Austen etwa ist eine Meisterin den unterschwelligen Sarkasmus und einer satirischen Schreibweise. Im wohl bekanntesten Roman „Stolz und Vorurteil“ wird die damalige Erwartung, welche die Gesellschaft an Frauen und deren Haltung zur Ehe hatte, aufs Korn genommen. Jede Frau, so erwartete es die Gesellschaft, will nur möglichst reich heiraten, um finanziell abgesichert zu sein. Für Männer hingegen zähle einzig der Schein, wie sie von der Umwelt wahrgenommen werden.

5. weil sie oft enorm bibelgetränkt sind.
Mich hat schon oft erstaunt, wie viel von der Bibel und vom Glauben in diesen Klassikern vorkommt – und nicht mal unbedingt immer so positiv, aber wirklich häufig. Manche arbeiten sich am Glauben ihrer Zeit ab, wie etwa bei George Eliot, andere wie Dostojewski hingegen sehr positiv. Austen hatte ein gemischtes Gefühl dem Glauben gegenüber, was sich auch in ihren Romanen niederschlug. Aber alle entstammen Zeiten, Orten, Kulturen und Gesellschaftsschichten, die vom christlichen Glauben geprägt sind, und das merkt man.


Samstag, 22. Juli 2017

Das habe ich nur als Mutter gemeint!

Ein kurzes Gespräch im Roman „Middlemarch“ von George Eliot beschreibt ein typisches Phänomen, das wir auch heute oft beobachten können. Es geht um Dr. Lydgate, den frisch zugezogenen, in dem Sinne fremden, Arzt, der laut Gerüchten kurz davor stehen soll, die Rosamonde zu heiraten (was sich später dann auch bewahrheitet). Hier ein Auszug aus der brodelnden Gerüchteküche:

Not but what I am truly thankful for Ned’s sake,” said Mrs. Plymdale. “He could certainly better afford to keep such a wife than some people can; but I should wish him to look elsewhere. Still a mother has anxieties, and some young men would take to a bad life in consequence. Besides, if I was obliged to speak, I should say I was not fond of strangers coming into a town.” “I don’t know, Selina,” said Mrs. Bulstrode, with a little emphasis in her turn. “Mr. Bulstrode was a stranger here at one time. Abraham and Moses were strangers in the land, and we are told to entertain strangers. And especially,” she added, after a slight pause, “when they are unexceptionable.” “I was not speaking in a religious sense, Harriet. I spoke as a mother.” (Kindle-Position 5267 – 5271)

Auch heute findet man oft, dass zwischen dem, was dem christlichen Glauben entspricht und dem, was Menschen diesen Bekenntnisses tatsächlich tun, eine tiefe Kluft. So, als wollte man sagen: Das habe ich nicht im Sinne des Glaubens gemeint, das habe ich nur als Weltmensch gemeint!


Samstag, 15. Juli 2017

Buchtipp: Die Honigfabrik

Tautz, Jürgen, Steen, Diedrich, Die Honigfabrik, Gütersloher Verlagshaus, 2017, Amazon-Link, Verlagslink

Vielen Dank an das Gütersloher Verlagshaus für das Rezensionsexemplar des Buches. Jürgen Tautz ist seit vielen Jahren ein bekannter Forscher und Autor über die Honigbiene und die Imkerei. Spätestens seit dem Buch „Phänomen Honigbiene“ wird er von vielen Lesern geschätzt. Da mich die Biene schon seit Langem sehr interessiert, und ich zudem gerne Honig esse, war ich auf das neue Buch von ihm gespannt.

Die Gestaltung des Buches lässt das Herz eines echten Bücherfreundes höher schlagen: Ein originell gestalteter Schutzumschlag, dazu ein farblich abgestimmtes Lesebändchen, das ein Buchzeichen überflüssig macht, stabiles Papier, eine gut lesbare Schrift in einer angenehmen Größe, immer wieder Schwarz-Weiß-Grafiken im Text, und das Ganze mit einer kleinen aber feinen Sammlung von wichtigen Farbbildern am Schluss abgerundet.

Die Wunderwelt der Bienen – eine Betriebsbesichtigung“, so lautet der Untertitel des Buches. Es ist ein Rundgang in mehrfacher Hinsicht: Ein Rundgang durch die Honigfabrik, ein Rundgang durch das Bienenjahr, und nicht zuletzt auch ein Rundgang durch die bisherige Forschung, die dieses spannende Lebewesen „die Biene“, aber auch den „Superorganismus Bien“, also das Bienenvolk als Ganzes, betrifft. So liest man – immer wieder sehr humorvoll und leicht lesbar – etwa vom „Rudelkuscheln in der Kiste“, „Callboys für die Königin“ oder „Zickenterror mit Todesfolge“.

Bienen lassen sich relativ leicht auf bestimmte Muster „trainieren“, d.h. sie werden hinter einem Muster mit Zuckerwasser belohnt, während sie hinter dem anderen Muster leer ausgehen. Höchst spannend ist ein Versuch, bei welchem Bienen zwischen einem Bild von Monet und einem von Picasso unterscheiden lernen mussten. Beim Austausch von Bildern durch andere derselben Maler und derselben Kunstrichtungen hat eine Mehrzahl von Bienen die Struktur hinter den Bildern schnell erkannt (vgl. S. 122f).

Bienen sind gleichzeitig zwei Arten von Organismen: Jede Biene funktioniert für sich selbst und kann selbständig eine Menge Aufgaben erledigen, und doch kann jede nur in der Gesamtheit ihres Volkes überleben. Bienen müssen einander wärmen, sobald es kälter wird. Tautz schreibt: „Bienen sind besonders kälteempfindliche Insekten. Eine einzelne Biene wird bei einer Temperatur von etwa plus 10 Grad Celsius bewegungsunfähig und stirbt bei etwa plus 4 Grad Celsius. Hängt man allerdings eine ganze Bienenkolonie in eine Kühlkammer, geht es dem Volk bis zu Temperaturen von minus 40 Grad Celsius und darunter sehr gut.“ (S. 42)

Für mich als Theologen ergeben sich daraus natürlich zwangsläufig Analogien zur Gemeinde, in welcher es zwar nicht ums „Rudelkuscheln“ wie im Bienenvolk geht, aber doch jeder Einzelne für den „Superorganismus Gemeinde“ und für die Gesundheit der Lehre jedes einzelnen anderen mitverantwortlich ist. Wo diese Verantwortlichkeit nicht gelebt wird, kommt es immer wieder zur faulbrutartigen Verbreitung von Irrlehren und anderen schweren Irrtümern, an welchen auch häufig ganze Gemeinden zugrunde gehen. Wo die Nähe zu einer gesunden, „wärmespendenden“ Gemeinde fehlt, erkaltet auch sehr schnell das gesamte Fundament des Glaubens.

Für wen eignet sich das Buch? Bei dieser Frage, so empfinde ich es zumindest, kommt eine kleine Schwäche des Buches zum Vorschein. Es ist ein Buch (frei nach F. Nietzsche) „für alle und niemand“, allerdings im umgekehrten Sinne als es Nietzsche dazumal verstanden haben wollte. Die Honigfabrik ist für jeden verständlich, doch fällt mir keine Lesergruppe ein, von der ich sagen kann: Die muss es gelesen haben, für diese ist es ein „Must-Read“. Es eignet sich für alle, die gerne mehr über die Bienen erfahren. Ein Imker wird relativ wenig wirklich Neues erfahren (für mich als interessierter Laie und Nichtimker war die Sache mit Monet und Picasso so ziemlich das Einzige, was ich tatsächlich noch nicht wusste). Es eignet sich aber für jeden Imker, der sein Wissen um den Bien gerne von einer neuen, humorvollen und auf den Punkt gebrachten Sichtweise und in verständliche Sprache gekleidete Art und Weise betrachten möchte. Es lohnt sich auch für den Imker, dieses Buch seinen Kunden weiterzuempfehlen, welche sich für den Honig und die Bienen interessieren. Und nicht zuletzt möchte ich es jedem ans Herz legen, der gerne über die wunderbare Schöpfung Gottes staunt. Wir können von den Bienen sehr viel lernen und die Autoren haben ein Werk vorgelegt, in welchem für alle Leser verständlich ein äußerst spannender Bereich dieser Schöpfung vermittelt wird. Zwei Dinge hat das Buch besonders in mir ausgelöst: Nun habe ich Tautzens Buch „Phänomen Honigbiene“ endgültig auf meine „To-Read“-Liste gesetzt, und zudem eine Vorfreude für die nächste Gelegenheit bei befreundeten Imkern mal wieder mitzuhelfen bekommen.

Ich gebe dem Buch 5 von 5 möglichen Sternen.


Sonntag, 9. Juli 2017

Gepredigt: Christsein im säkularen Zeitalter

Ausgehend von Esther 4, 12 - 17 habe ich einige Parallelen zu unserer Zeit gezogen und komme zu einigen Anmerkungen für unsere Zeit: 

"Wenn unsere Zeit immer säkularer wird, müssen wir uns fragen: Was können wir von Esther lernen, um in dieser Zeit zu leben? Es ist eine Zeit, in welcher christliche oder biblische Werte immer weniger eine Rolle spielen. Das war zur Zeit Esthers nicht anders. Das Gefühl von König Xerxes, seine momentane Befindlichkeit, gab den Ton an. Esther reagierte darauf nicht mit dem Ruf nach christlichen Werten. Sie reagierte mit dem Verstand, indem sie dem König darlegte, wie es um ihr Volk stand. Sie ging auf den König ein.
Unser Problem ist, dass wir uns auf den christlichen Werten ausgeruht haben, während das Fundament der christlichen Werte, die Bibel, immer weiter ins Abseits gerutscht ist. Wir sind alle davon überzeugt, dass die christlichen Werte ein Segen für alle Menschen sind, keine Frage. Aber wir haben uns auf dem ausgeruht was frühere Generationen für uns getan haben, indem sie die biblischen Werte im Grundgesetz verankert haben, und haben es versäumt, den nächsten Generationen klarzumachen, warum diese biblischen Werte für alle ein Segen sind. Wir haben das für selbstverständlich gehalten und nicht vernünftig begründet – und jetzt regen wir uns darüber auf, dass sich eine Mehrheit findet, die dem widerspricht und andere Werte haben möchte. Wir regen uns auf, dass sich Menschen von den biblischen Werten diskriminiert fühlen, während viele aus unseren christlichen Reihen tatsächlich andere Menschen diskriminiert, beleidigt, ausgegrenzt haben. Es ist an der Zeit, dass wir darüber Buße tun und Gott um Hilfe bitten, diese Menschen erreichen zu können, ihre Herzen erreichen zu können, sie persönlich annehmen und verstehen und lieben zu lernen, ohne mit der Wahrheit Kompromisse einzugehen.
Es ist an der Zeit, dass wir lernen, die biblischen Werte als Segen für alle Menschen zu begründen, bevor wir diese Werte einfach einfordern mit einem „so ist es halt, Gott hat das so gesagt, aus und fertig, und amen dazu“.
Es ist auch Zeit, dass wir lernen, dass Gott uns genau in diese Zeit hinein gestellt hat, damit wir zum Segen für diese Menschen werden können, die Ihn brauchen, die sich nach Gottes Liebe sehnen, ohne zu wissen, was ihnen tatsächlich fehlt. Jesus hat mit den Menschen Zeit verbracht, die sich von den übrigen Menschen ausgestoßen, verachtet, alleingelassen fühlten, und ging genau zu ihnen, um sie zu lieben und für sie da zu sein. Er ist für alle Sünder gestorben, die Ihn brauchen, und unter diesen sind wir ebenso zu finden. Der Unterschied ist nur, dass es gerechtfertigte Sünder gibt, nämlich jene, welche Gottes Vergebung annehmen, und andere, welche ihre Last und Schuld selber tragen wollen.
Und es ist auch an der Zeit, dass wir endlich unser Privileg kapieren, das wir mit dem Gebet haben. Ein Mensch ohne Gott kann nur alle vier Jahre Einfluss auf die Politik ausüben, indem er wählen geht. Der Christ darf jeden Tag für die Regierung beten, wie Paulus schreibt: So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen darbringe für alle Menschen, für Könige und alle, die in hoher Stellung sind, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Gottesfurcht und Ehrbarkeit; denn dies ist gut und angenehm vor Gott, unserem Retter, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst als Lösegeld für alle gegeben hat. (1Tim. 2, 1-6)

Esther, Mordechai und die Juden der Stadt Susa fasteten und beteten zusammen, und dann ging Esther hin, und nahm allen Mut zusammen, sie wusste, dass es ihr Leben kosten kann, aber sie ging hin und redete mit dem unberechenbaren König, sie tat Gottes Willen, sie war gehorsam, auch unter Lebensgefahr. Als Christen wissen wir nicht, wie sich unsere Zeit weiter entwickeln wird, wir wissen nur, dass es mit dem Tod nicht zu Ende ist; und wir wissen auch, dass gerade die Todesgefahr für Christen oft zu Zeiten großer Erweckungen geführt hat. Unser Auftrag ist es, Gott zu gehorchen, die Menschen zu lieben, und Tag für Tag unseren Teil zu tun, damit alle Gottes Größe sehen können."

Mittwoch, 5. Juli 2017

Gastbeitrag: Eine kurze Reise nach Mittelerde

Nachdem ich vor einiger Zeit einige Freunde angefragt hatte, ob sie mir ein paar Fragen zum „Herr der Ringe“ beantworten würden, hat Hanniel dazu frei einen Text formuliert. Vielen Dank für den Gastbeitrag, Hanniel!

Eine kurze Reise nach Mittelerde
geschrieben unterwegs

Was soll man zum Klassiker „Herr der Ringe“ noch schreiben? Es gibt wenig, dass nicht gesagt worden wäre. Humphrey Carpenter legte die Biografie (J. R. R. Tolkien: A Biography) vor und editierte sein Briefwerk (The Letters of J. R. R. Tolkien). Lewis- und Tolkien-Forscher Duriez zeichnete u. a. die Geschichte der Freundschaft mit Lewis nach (Tolkien und C. S. Lewis - Das Geschenk der Freundschaft) und verfasste einen kompetenten Führer in die Welt von Mittelerde (A Guide to Middle Earth: Tolkien and The Lord of the Rings). Peter Kreeft handelte systematisch 50 Bereiche der dahinter liegenden Weltanschauung ab (The Philosophy of Tolkien: The Worldview Behind the Lord of the Rings). Louis Markos verfolgte die Spur der Tugendethik (On the Shoulders of Hobbits: The Road to Virtue with Tolkien and Lewis). Womit schon gesagt wäre, dass ich mit Sekundärliteratur gut versorgt auf die Reise nach Mittelerde startete.

Vielleicht könnte ein Blick in die leuchtenden Gesichter meiner Söhne – deren Zahl ist fünf – mehr sagen als alles andere. Dass mein Achtjähriger nach dem „Silmarillion“ (der von Christopher Tolkien definitiv zusammengestellten Sammlung der Geschichten aus dem ersten Zeitalter von Mittelerde) verlangte, erstaunte mich nicht. Für die Lektüre von „Herr der Ringe“ behalfen sie sich mit Hörbuch, bemächtigten sich der beiden roten Ausgaben von „Der Herr der Ringe“ (ich stockte infolge Interesse auf) und nahmen auf die Bahnfahrten ihren E-Reader mit, um dranzubleiben. Fragte ich in die Runde, was sie denn an dieser Welt faszinierte, kamen präzise Antworten in Form von einzelnen Szenen und vor allem Charakterbeschreibungen. Das heisst, sie konnten sich in die einzelnen Figuren und Szenen ein-fühlen, mitleiden und – was wirklich nicht selbstverständlich ist – auch wieder auf Selbstdistanzierung gehen und sagte, was sie bewunderten und was sie erschauern liess.

Ich nehme Sie mit in einige Impressionen meinerseits. Wenn man den Text auf den Begriff „Baum“ durchsucht, dann spuckt die Suchmaschine knapp 500 Stellen heraus. Es handelt sich nicht um endlos wiederholende Naturbeschreibungen im Stile Karl Mays, sondern um ein besorgtes Mit-Atmen mit den grünen Teilen der Erde. Tolkien bedauerte die Industrialisierung und Technisierung, die mit dem Verlust von vielen Grünflächen – u. a. seiner eigenen Jugend – Hand in Hand ging, zutiefst. Bäume haben in Mittelerde ein Eigenleben. Den Baumhirten (Ents) kommt in der Erzählung gar eine Heldenrolle zu. Die Baumszenen fand ich also richtig zum Eintauchen und Durchatmen.

Gehen wir zum Gegenteil des Durchatmens: Zum Bedrückenden. Auch hierin mag Tolkien voll zu überzeugen. Der schwer gehende Atem, die dunklen schweren Wolken, die Enge, die einem ans Herz greift: Die auf die Machenschaften Saurons zurückführenden Ereignisse und Manöver liessen auch mein Herz mit einem leisen Druck belegen. Das Auge, das dich (fast) immer sieht, dein Unheil will, und dessen Späher überall auftauchen, die Reiter schnell, die Schläge, die in der Regel tödlich sind, zeigen auf, was ich als Christ im Kopf schon weiss, mir aber viel zu wenig bewusst bin: Die Realität der unsichtbaren Welt und der Kampf des Fürsten der Finsternis gegen Den, der das Licht geschaffen hat und Menschen zum zweiten Mal neues Licht bringt.

Wie schon „Der Hobbit“ liest sich der Herr der Ringe als Reiseerzählung. Er reiht sich damit in die vielen Klassiker seit Homers „Odysseus“ oder der „Pilgerreise“ von Bunyan ein. Sie entspricht dem Charakter unseres Lebens: Wir leben immer in der Gegenwart und setzen einen Schritt vor den anderen. Gleichzeitig prägen Erinnerungen und Gewohnheiten unseres bisherigen Weges unser Denken und Handeln. Wir blicken auch in die Zukunft und nehmen sie vorweg. Wir hoffen und verzagen gleicherweise. Die Parallelwelt von Mittelerde lässt uns bewusster auf die vertrackte, an manchen Stellen unübersichtliche, von vielen Einzelsträngen durchzogene Lebensreise werfen: Den Start, die ersten Strapazen, unerwartete Lichtblicke, ersehnte Zwischenhalte, in Erinnerung bleibende Feste, Freundschaften und Verrat derselben, Etappen der Krankheit und des Verlustes. Bleibend sind einzelne Begegnungen, die Überraschungen und Enttäuschungen in sich bergen.

Lasst mich hier einhängen – bei den Begegnungen. Tolkien hat, geschickt wie kein Zweiter, mannigfaltige Charakteren eingebaut. Man mag kaum mit einer Person gänzlich mitgehen. Am ehesten vielleicht noch mit Sam, dem treuen Freund. Aragorn heischt Bewunderung. Mit Frodo leiden wir mit. Gandalf taucht zeitig zu Unzeiten auf. Doch keine Figur ist vollkommen. Die Grundspannung zwischen dunklen Kräften und edlem Mut bleibt. Es gibt zahlreiche Tugenden, die uns das Buch so treffend darstellt: Natürlich den hohen Wert der Freundschaft. Alleine kommt letztlich niemand ans Ziel. Tapferkeit ist gefragt, oft auch überraschend für die Person selbst, oder nach Momenten der kompletten Verzagtheit. Uneigennützigkeit kontrastiert mit Begierde und Eigennutz. Das beherzte Zugreifen folgt Strecken der minimalen Versorgung. Körperliche Ausdauer und Widerstandsfähigkeit, Müdigkeit und Erschöpfung rücken ins Zentrum. Nicht im (post)modernen Sinne, als ob unser Körper das Zentrum der Welt wäre. Doch eine gesunde Körperwahrnehmung und das Spüren der eigenen körperlichen und psychischen Grenzen gehören in eine gesunde Lebensschule. Wie kommt sie zu kurz in unserem Zeitalter der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung!

Etwas hätte ich fast vergessen. Es gibt Schätze, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt. Die einen Schätze muss die Freundestruppe loswerden. Der Ring, vom Feinde heiss begehrt, gehört ins Feuer der Vernichtung. Nicht mehr der Goldschatz der Hobbits, sondern die Rückführung der gefährlichen Begierden ist gefragt. Auffällig ist die Anfälligkeit der Ringträger. Sie widerstehen kaum der drückenden Last, ebenso wenig dem gedanklichen Sog, den der Ring entwickelt. Hohe Opfer, ja der Tod, wird eingefordert und bezahlt. Überhaupt ist dies meinen Söhnen aufgefallen: Der Weg zum Schicksalsberg ist ein Weg der Kämpfe, der Schlachten und der Opfer. Zu meiner Frau meinten sie: „Wenn du das liest, musst du dich auf viele grauenvolle Szenen vorbereiten.“ Damit meinten sie nicht abscheuliche Szenen der zeitgenössischen Bildgebung, die dazu aufgebaut werden, um die Bildsüchtigen in ihren Bann zu ziehen. Vielmehr geht es um heimtückische Überfälle und tapfere Abwehr von Mann zu Mann. Einzelne Helden exponieren sich. Es wird mit Schwert, Lanze und Bogen gekämpft, nicht mit ferngesteuerten Raketen.

Vieles in dieser Welt entspricht einem christlichen Weltbild und steht damit dem Bild unserer Zeit entgegen: Ja, es gibt zwei Mächte, die einander bekämpfen, jedoch nie in einer Gleichwertigkeit bzw. Gleichrangigkeit. Ja, es gibt persönliche Tugenden und ihr Gegenteil: Die Laster. Unser Leben ist eine Reise, die unabänderlich auf ein Ziel angelegt ist. Ohne Hilfe von aussen würden wir es nie erreichen. Freundschaft ist ein teures Gut. Unsere Feinde sind real. Es will wohl überlegt sein, welche Nahrung wir zu uns nehmen. Unsere Kräfte sind begrenzt. Tolkien sprach von einem vor-christlichen Universum. Er, der die Welt der nordischen Mythen wie seine Hosentaschen kannte und seine Sprachen beherrschte, sah ab von einer eintönigen Kopie (wie sein Weggefährte C. S. Lewis übrigens auch).

Die Reise nach Mittelerde prägt mich, weil sie mir einen geschärften Blick auf die von Gott geschaffene Wirklichkeit zur Verfügung stellt. Sie lässt mich in eine neue Art von Dialog mit meinen Söhnen treten. Denn Mittelerde vermittelt Bilder und Bewertungen, die wir gemeinsam teilen können.