Samstag, 3. Oktober 2015

10 Zitate aus „Die vergessene Generation“ von Sabine Bode

Sabine Bode, Die vergessene Generation: Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Piper Verlag München, 6. Aufl. 2012 Link zu Amazon

[Anmerkung: Mit „Kriegskinder“ bezeichnet die Autorin Kinder, die während des 2. Weltkriegs geboren wurden, genau genommen die Jahrgänge 1930 – 1945]


Jahrzehntelang hatten die Kriegskinder ihre frühen Traumatisierungen verdrängt oder auf Abstand gehalten, doch nun war die Zeit reif, Worte für Erlebnisse zu finden, die bis dahin unaussprechbar gewesen waren. Was dabei sichtbar wurde: Natürlich hat die Begegnung mit Kriegsgewalt und Heimatverlust im späteren Leben Folgen, auch wenn die Betroffenen nicht wahrnehmen, wodurch sie untergründig gesteuert werden.“ (S. 11)

Alle Teilnehmer [eines Seminars] zeigten sich erstaunt über die Tatsache, wie wenig ihnen über ihre Familien bekannt war. Das war die erste Gemeinsamkeit. Die zweite Gemeinsamkeit bestand darin, zu erkennen, dass wir zwar über die Einstellungen und Funktionen unserer Eltern in der Nazizeit recht gut Bescheid wussten, aber emotional und faktisch kaum erfassen konnten, was der Krieg in unseren Familien angerichtet hatte.“ (S. 27)

Im Alter rückt die Kindheit wieder näher. Da hat man das Bedürfnis und endlich auch die Zeit, sich mit seinen Wurzeln und den frühesten Eindrücken zu beschäftigen.“ (S. 32)

Um in Ruhe alt werden zu können, brauchen Menschen ihre komplette Biografie, ohne leere Stellen, ohne Schatten. Das gehört zu den Menschenrechten.“ (S. 143)

Traumatische Ereignisse bewirken tiefgreifende und langfristige Veränderungen in der physiologischen Erregung, bei Gefühlen, Wahrnehmung und Gedächtnis. Überdies werden diese normalerweise aufeinander abgestimmten Funktionen durch ein traumatisches Erlebnis manchmal voneinander getrennt. Der Traumatisierte empfindet zum Beispiel intensive Gefühle, kann sich aber nicht genau an das Ereignis erinnern; oder er erinnert sich an jedes Detail, empfindet aber nichts dabei. Er ist vielleicht ständig gereizt und wachsam, ohne zu wissen, warum.“ (S. 202)

Kinder wissen instinktiv, dass sie Bedrohungen am besten verkraften, wenn sie in Gemeinschaft mit anderen das Geschehen nachspielen. Meistens sind sie in der Lage, auf diese Weise ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen.“ (S. 204)

Der Ausbruch der Gewalt im Balkan in den Neunzigerjahren hat gezeigt, dass das Langzeitgedächtnis für unverarbeitete kollektive Schrecken nachtragend und unberechenbar ist. Fünfzig, sogar hundert Jahre können verstrichen sein, und man glaubt, die Zeit habe alle Wunden geheilt – aber dann eskaliert irgendein Konflikt, und eine ungeheure Zerstörungskraft bricht auf. Unverarbeitete kollektive Traumata können sich in Ressentiments niederschlagen wie auch in blutigen Auseinandersetzungen. Ähnlich wie bei Blindgängern und Giftmülldeponien bestünde verantwortliches Handeln darin, die Gefahr zu entschärfen, bevor sie zum Ausbruch kommt.“ (S. 263f)

Menschen gelingt es am besten, ihr Leid zu verarbeiten, wenn sie die Unterstützung der Gemeinschaft spüren. Wer dagegen in seiner Opferrolle verharrt, bereitet auch seine Kinder und Kindeskinder darauf vor. Auf diese Weise werden sie anfällig für Manipulationen und eine leichte Beute für politische Rattenfänger. Große Opfergruppen, die ständig jammern, ob versteckt oder offen, schwächen die Demokratie.“ (S. 264)

In unserer Kultur finden Gemeinschaftsrituale, in denen öffentlich Unrecht bezeugt wird, nur im Gerichtssaal statt. Dort steht aber nicht das Opfer im Mittelpunkt, sondern der Täter. Und da Richter nicht die Aufgabe haben, Trost zu spenden, sondern die Wahrheit herauszufinden, weshalb Opfer häufig wenig einfühlsam befragt werden, besteht die Gefahr, dass Gerichtsverhandlungen einem traumatisierten Menschen eher schaden.
Was bleibt? Eigentlich nur die Trauerfeier. Tränen sind erlaubt. Die Gemeinschaft tröstet. Vorausgesetzt, es handelt sich um ein stimmiges und nicht um ein leeres Ritual.“ (S. 269f)

Was geschieht, wenn das Kind täglich katastrophalen Kriegsereignissen ausgesetzt ist, wenn es miterlebt, dass andere, womöglich ihm nahestehende Menschen getötet und verstümmelt werden, dass Erwachsene, die Schutz bieten sollten, verschwinden, selbst dekompensieren und dadurch psychisch verschwinden? Je nach Alter wird das Kind mit Rückzug, Depression, Ess- und Schlafschwierigkeiten, übertriebenem Anklammern, Einnässen und Einkoten, um nur einige Symptome zu nennen, reagieren.
Es könnte auch geschehen, dass dieses Kind während der traumatischen Erfahrung 'abschaltet', sich so verhält, als sei das alles nicht wahr, als geschehe es nicht wirklich, und dieser Zustand des Ausblendens der Wirklichkeit würde sich verfestigen, sodass auch der spätere Erwachsene Schwierigkeiten hätte, das Hier und Jetzt angemessen wahrzunehmen und einzuordnen.
Dieses Ausblenden der Gegebenheiten und einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, dürfte ein kollektives Problem des deutschen Volkes gewesen sein.“ (S. 301)